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Ukraine: 600km² unter Wasser, Selenskyj besucht Flutgebiet

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Russland und die Ukraine schieben sich weiter die Schuld an der Zerstörung des Kachowka-Staudamms zu. Selenskyj kritisiert, dass zu langsam Hilfe geleistet werde.

Wenige Tage nach der folgenschweren Zerstörung des Kachowka-Staudamms im ukrainischen Kriegsgebiet ist Präsident Wolodymyr Selenskyj in die Hochwasserregion gereist. In der südlichen Region Cherson machte er sich am Donnerstag ein Bild von der laufenden Massenevakuierung und traf Anrainer, Rettungskräfte und Soldaten. 

Beschuss trotz Überschwemmungen

"Wir werden Ihnen helfen und alles aufbauen, was aufgebaut werden muss", sagte er bei einem Besuch in der Hochwasserregion. Selenskyjs Delegation beklagte, dass auch während der laufenden Evakuierungen von russischer Seite aus dem besetzten Teil des Gebiets Cherson geschossen worden sei. Ein Mann wurde auf einem Rettungsboot durch den Beschuss schwer am Kopf verletzt, wie das ukrainische Fernsehen zeigte.

Trotzdem sollen die Hilfsmaßnahmen noch deutlich ausgebaut werden, wie Selenskyj meinte. In Snihuriwka im Gebiet Mykolajiw solle ein Krisenstab gebildet werden, der sich rund um die Uhr um die Beseitigung der Folgen der Flut kümmert. Zuvor hatte der Präsident in Cherson, wo er eine Notaufnahme von Flutopfern besuchte, den betroffenen Menschen Unterstützung versprochen.

Das Überschwemmungsgebiet ist laut ukrainischer Darstellung schon jetzt 600 Quadratkilometer groß - und aus dem Stausee hinter dem zertrümmerten Damm ergießen sich weiter ungehindert riesige Wassermassen über das Land. Selenskyj veröffentlichte über seinen offiziellen Telegram-Kanal ein Video, das Häuser zeigt, von denen nur noch die Dachspitze aus den meterhohen Fluten ragt.

Warnung vor hohen Opferzahlen

Die Ukrainer warnen seit Tagen vor hohen Opferzahlen auf der besetzten Südseite des Flusses Dnipro, der in dieser Gegend etwa die Frontlinie darstellt. Sie halten den Russen vor, sich nicht ausreichend um die Evakuierung der Zivilisten zu kümmern und ukrainische Rettungsversuche zu torpedieren. Den Vereinten Nationen und dem Roten Kreuz warf Selenskyj vor, nicht schnell genug Hilfe im Katastrophengebiet zu leisten.

Gut zwei Drittel der überschwemmten Fläche sind laut ukrainischen Angaben russisch besetztes Territorium. Der Besatzungschef der besonders betroffenen Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sprach am Donnerstagvormittag im russischen Staatsfernsehen von fünf Toten und mehr als 40 Verletzten. Unabhängig ließen sich diese Zahlen nicht überprüfen.

Experten sehen Schuld bei Russland

Der Damm in Nowa Kachowka war in der Nacht auf Dienstag zerstört worden. Die Ukraine macht - ebenso wie viele internationale Experten - Russland für die Katastrophe verantwortlich. Die Regierung des angegriffenen Landes ist davon überzeugt, dass Moskau den Staudamm sprengen ließ, um so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern. Moskau weist das zurück und schiebt Kiew die Schuld zu. Experten halten es auch für möglich, dass der von Russland seit langem kontrollierte Staudamm schlecht gewartet wurde und unter dem Druck der Wassermassen geborsten ist.

Russland könnte Stellungen verloren haben

Der Generalstab in Kiew geht davon aus, dass die russischen Truppen durch die Zerstörung des Damms Kämpfer, Ausrüstung und Militärtechnik verloren haben. Es gebe tote, verletzte und vermisste Soldaten. Auch Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) stellten fest, dass durch die reißenden Fluten aus dem Stausee russische Verteidigungsstellungen an der Frontlinie vernichtet worden seien. Russische Militärblogger meinen, die ukrainischen Truppen könnten nun in dem besetzten Gebiet leichter vordringen, um die Region und dann auch die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim zurückzuerobern. Die Ukraine weist das als Propaganda der russischen "Terroristen" zurück.

Sorgen um AKW

Für das am nördlichen Ende des Stausees gelegene Akw Saporischschja bestehe zwar keine unmittelbare Gefahr, beteuern die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sowie die Atomkonzerne in Russland und in der Ukraine. Allerdings werden die Kühlwasserreserven laut IAEA-Chef Rafael Grossi schnellstmöglich aufgefüllt, um vorbereitet zu sein, falls wegen des sinkenden Pegelstands bald kein Wasser mehr aus dem Reservoir gepumpt werden könne. Mit vollen Auffangbecken reiche das Wasser zur Kühlung der sechs Reaktoren einige Monate. Die Reaktoren seien abgeschaltet, bräuchten aber Kühlwasser. Grossi plant nun einen Ortsbesuch, zudem soll das IAEA-Team in Saporischschja verstärkt werden.

Der Wasserstand in dem See sei binnen 24 Stunden um einen Meter gesunken und liege mit Stand Donnerstagmorgen (7.00 Uhr MESZ) bei 13,05 Meter, teilte der staatliche Wasserkraftwerksbetreiber Ukrhydroenergo in Kiew mit. Wenn der Pegel unter 12,7 Meter sinke, könne kein Wasser mehr auf das Gelände des Kraftwerks Saporischschja gepumpt werden, hatte Grossi am Mittwochabend gesagt.

Katastrophe für Umwelt und Landwirtschaft

Verheerende Folgen hat der Dammbruch auch für die Umwelt und Landwirtschaft in der Region. So droht der Ukraine durch die Flutkatastrophe nach Angaben der Regierung ein mehrere Milliarden Tonnen schwerer Ernteausfall. Zehntausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche seien in der Südukraine überschwemmt worden, teilt das Agrarministerium mit. Zudem würden mindestens 500.000 Hektar Land ohne Bewässerung veröden. Auf den betroffenen Flächen würden hauptsächlich Gemüse, Melonen, Getreide und Ölsamen angebaut. Bei den überschwemmten Gebieten sei eine umfassende agrarökologische Bewertung des Bodenzustands erforderlich. In den meisten Fällen seien Spezialarbeiten zur Wiedernutzung nötig.

Erdoğan will Untersuchungskommission

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schlug indes in Telefonaten mit Kremlchef Wladimir Putin und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine Untersuchungskommission zur Staudamm-Katastrophe vor. Macron sicherte der Ukraine schnelle Unterstützung zu und stellte einen Hilfskonvoi mit Bedarfsgütern in Aussicht, darunter tragbare Tanks, Material zur Wasseraufbereitung und Hygieneartikel. Das Technische Hilfswerk (THW) in Deutschland schickte acht Laster mit Hilfsgütern wie Trinkwasserfiltern und Stromgeneratoren in Richtung Ukraine los.

ribbon Zusammenfassung
  • Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Menschen im gefluteten Kriegsgebiet im Süden des Landes Hilfe zugesichert.
  • "Wir werden Ihnen helfen und alles aufbauen, was aufgebaut werden muss", sagte er bei einem Besuch in der Hochwasserregion.
  • Selenskyjs Delegation beklagte, dass auch während der laufenden Evakuierungen von russischer Seite aus dem besetzten Teil des Gebiets Cherson geschossen worden sei.
  • Nach ukrainischen Angaben sind derzeit 600 Quadratkilometer unter Wasser, darunter 32 Prozent auf von Kiew kontrolliertem Gebiet, 68 Prozent auf von Moskau besetztem Territorium.

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