"So sieht Hunger aus": Titelfoto der "Zeit"Screenshot "zeit.de"

Starke Bilder, wenig Kontext

Sind diese Bilder aus Gaza Beweise für eine Hungersnot?

31. Juli 2025 · Lesedauer 6 min

Zwei Bilder, die von Medien als Belege für eine Hungersnot im Gazastreifen gezeigt wurden, werden hinterfragt. Sind die Kinder tatsächlich unterernährt oder haben sie schwere Krankheiten? PULS 24 hat die Schicksale zweier Palästinenser recherchiert.

Weltweit verbreiten Medien schockierende Fotos, die hungernde Kinder aus dem Gazastreifen zeigen sollen. Ihre Knochen sind durch die Haut sichtbar. Ein abgemagertes Kind trägt eine Windel, gemacht aus einem Müllsack. Es sind Bilder, die niemanden kalt lassen.

Sieht so Hunger aus?

"So sieht Hunger aus", titelte etwa die "Zeit" unter einem der Bilder. Doch was mehrere Medien in zumindest zwei Fällen vorerst verschwiegen: Die betroffenen Kinder leiden auch an schweren Vorerkrankungen

Ob die Fotos als Beweise für eine Hungersnot durchgehen, ist damit fraglich. Der Zustand der Kinder ist nicht nur auf die prekäre Situation in Gaza zurückzuführen. Dass der Krieg aber gar nichts damit zu tun habe, stimmt wohl auch nicht. 

Das Bild vom 18 Monate alten Mohammed Zakariya Ayyoub al-Matuk, das neben der deutschen "Zeit" untere anderem auch der "Stern", der britische "Daily Express", der "Guardian", die BBC oder die US-amerikanische "New York Times" verbreiteten, wurde von Ahmad al-Arini aufgenommen und von der türkisch-staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu lizensiert. 

Der Fotograf sagte der BBC, dass er das Foto aufgenommen habe, "um dem Rest der Welt den extremen Hunger zu zeigen". Doch ein Teil der Wahrheit wurde dabei weggelassen.

Vorerkrankungen blieben in Medien lange unerwähnt

Zuerst berichtete der britische Blogger David Collier, dass das Kind von Geburt an genetischen Erkrankungen leide. Mohammed habe Zerebralparese, also Fehlbildungen des Gehirns, die kurz nach oder während der Geburt entstehen und für Bewegungsstörungen und Muskelsteife sorgen. Außerdem habe das Kind Hypoxämie, also Sauerstoffmangel im Blut. 

Collier beruft sich auf Krankenakten von Mai 2025 der Hilfsorganisation "Basma Relief and Development Association", die er offenbar einsehen konnte.  

Er kritisierte, dass die Vorerkrankungen des Kindes zunächst in keinem Medienbericht erwähnt wurden - und veröffentlichte ein Foto, das die Mutter und den Bruder von Mohammed zeigen soll, die keine Zeichen von Unterernährung aufweisen würden.

https://x.com/mishtal/status/1949363288908734605

Fotograf Al-Arini sagte der BBC, dass sein Foto in einem Zelt in Gaza-Stadt, wohin die Familie von Nord-Gaza habe fliehen müssen, entstanden sei. Er sagte, dass das Kind keine Babymilch oder Vitamine erhalten habe und die Windel aus Plastik trage, weil es an Hilfslieferungen und Medizin fehle und die Preise für solche Produkte explodiert seien. Die Vorerkrankungen des Kindes erwähnte er nicht.

Manche Medien ergänzten fehlende Informationen

Die Mutter von Mohammed sagte in einem Statement gegenüber der BBC, dass ihr Kind schon länger physiotherapeutische Behandlung bekomme - und gab damit einen Hinweis auf Vorerkrankungen. Die BBC ging dem nicht näher nach.

Die Mutter sagte aber auch, dass der Zustand ihres Kindes wegen der "Hungersnot" schlechter geworden sei. Ihr Sohn wiege nur sechs Kilogramm und leide an chronischer Erschöpfung. 

https://x.com/NYTimesPR/status/1950311365756817690

Mittlerweile veröffentlichte die "New York Times" ein Statement, wonach man den Artikel über das Kind mit dem Hinweis auf bereits vorher existierende Gesundheitsprobleme ergänzt habe. Die Zeitung bleibt aber dabei, dass Mohammed unterernährt sei. 

Generell hätten Reporter vor Ort dokumentiert, dass Kinder in Gaza unterernährt seien und hungern würden. 

Auch bei der "Zeit" wurde mittlerweile ergänzt, dass der Junge "auch an einer Vorerkrankung leidet". Der Titel "So sieht Hunger aus" blieb über dem Bild stehen. 

Ähnlich ist auch die Geschichte hinter einem Bild, das etwa die italienische Zeitung "Il Fatto Quotidiano" auf der Titelseite veröffentlichte. Es zeigt den fünfjährigen Osama al-Raqab. Auch er sieht auf dem Foto abgemagert aus, sein Gesicht ist eingefallen, seine Rippen sind deutlich sichtbar. 

"Ist das ein Kind?" titelte die Zeitung in Anspielung auf die Autobiografie "Ist das ein Mensch?" des Holocaust-Überlebenden Primo Levi.

Wieder eine Krankheit verheimlicht

Nicht nur den Vergleich finden viele geschmacklos und den Holocaust verharmlosend. Auch habe das italienische Medium verschwiegen, dass auch Osama al-Raqab an einer schweren Vorerkrankung leidet, nämlich an Stoffwechselerkrankung Mu­­koviszidose (zystische Fibrose), kritisierte nun unter anderem das israelische Außenministerium.

Außerdem habe sich die Situation des Kindes mittlerweile verbessert, zeigte der israelische Regierungs-Account mit einem aktuelleren Bild.

https://x.com/cogatonline/status/1949760738756534375

In einem Statement rechtfertigte sich "Il Fatto": Das Foto stamme aus einer Fotoreportage der "Associated Press" von Mai. Es wurde in Khan Younis im Gazastreifen aufgenommen. "Associated Press" habe schon damals berichtet, dass sich die Krankheit durch Mangelernährung verschlimmert habe. 

Tatsächlich bezog sich "AP" in einem Bericht im Mai auf die Mutter des Kindes: Der Mangel an Fleisch, Fisch und Enzymtabletten, die ihm bei der Verdauung helfen, führte zu wiederholten Krankenhausaufenthalten und langen Phasen mit Brustinfektionen und akutem Durchfall, sagte diese. "Angesichts der Hungersnot in Gaza essen wir nur noch Linsen aus der Dose", wurde die Frau zitiert. 

"Nicht allein auf den Krieg zurückzuführen"

Am 11. Juni wurden Osama, seine Mutter und sein Bruder nach Italien ausgeflogen. Das Kind befindet sich nun in einem Krankenhaus in Verona. Am Dienstag berichtete "Il Mattino di Padova", dass auch die Ärzte in Italien von einer genetischen Erkrankung ausgehen. 

Bei der Einlieferung habe das Kind nur 9 Kilogramm gehabt - in seinem Alter sollte er 18 wiegen. "Die Ärzte sagten, seine Unterernährung könne nicht allein auf den Krieg zurückzuführen sein. Seine Mutter und sein kleiner Bruder, die mit ihm ankamen, waren trotz ihres gemeinsamen Lebensumfelds nicht so unterernährt", heißt es in dem Bericht. 

Die Behandlung in Italien helfe aber: Nun könne das Kind Medikamente und Nahrung wieder oral aufnehmen und wiege bereits über 11 Kilogramm. 

Trifft die abgedroschene Phrase, wonach die Wahrheit im Krieg zuerst stirbt, also abermals zu? Zumindest wird auf eine differenzierte Betrachtung zunehmend verzichtet. 

Unabhängig von den Schicksalen der beiden Kinder warnen aber tatsächlich immer mehr Hilfsorganisationen vor der äußerst prekären Versorgungslage im Gazastreifen.  

Hilfslieferungen laufen langsam wieder an

Laut Ärzte ohne Grenzen etwa sind 25 Prozent der Kinder im Alter von sechs Monaten bis fünf Jahren sowie 25 Prozent der schwangeren und stillenden Frauen im Gazastreifen mangelernährt

Seit Sonntag lässt Israel allerdings wieder größere Hilfslieferungen zu. Die israelische Armee hat "taktische Pausen" ihres Einsatzes im Gazastreifen zu humanitären Zwecken verkündet. 

Hamas plündert UN-Hilfslieferungen? 

Davor wurden monatelang kaum Hilfslieferungen zugelassen. Israel argumentierte dies unter anderem damit, dass die islamistische Hamas diese plündern und teuer verkaufen würde. 

Diesen Behauptungen widersprechen allerdings mehrere israelische Beamte. Vor wenigen Tagen gaben zwei israelische Militärs sowie zwei weitere Beamte, die alle anonym blieben, gegenüber der "New York Times" zu, dass Israel keinerlei Beweise dafür habe, dass die Hamas die UN-Hilfslieferungen systematisch plündere. Es gibt allerdings auch Berichte über Plünderungen der Hilfslieferungen durch Clans.

Der Krieg wäre laut Israel beendet, würde die Hamas die Geiseln freilassen und kapitulieren.

Humanitäre Krise in Gaza: Israel legt "taktische Pause" ein

Ben Segenreich im Interview.

Zusammenfassung
  • Zwei Bilder, die von Medien als Belege für eine Hungersnot im Gazastreifen gezeigt wurden, werden hinterfragt.
  • Sind die Kinder tatsächlich unterernährt oder haben sie schwere Krankheiten?
  • PULS 24 hat die Schicksale zweier Palästinenser recherchiert.