Fischer: Verzicht auf Neutralität wäre "riesiger Fehler"
Fischer zitierte diesbezüglich das bekannte Bonmot des sowjetischen Diktators Josef Stalin, der einst gefragt habe, wie viele Divisionen der Papst habe. "Die Neutralität hat keine Divisionen, die uns schützen, sie hat keine Maschinengewehre, sie hat keine Panzer. Aber es ist ein Status, der allen Ländern bekannt ist und den wir mit Gewissen und korrekt und fair beibehalten haben." Somit müsse sich jeder Staat überlegen, ob er ein neutrales Land wie Österreich angreifen würde, in dem noch dazu internationale Organisationen wie die UNO oder OPEC ihren Sitz hätten. Dies brächte nämlich "viel mehr Prestigeverlust und Vorwürfe und Anklagen in internationalen Gremien, als es einen Gewinn bringt", argumentierte Fischer. Deshalb sei es "unklug und leichtfertig, so die Neutralität herunterzutun", formulierte er in Richtung der heimischen Neutralitätskritiker.
Fischer betonte, dass Österreich rechtlich befugt sei, die Neutralität abzuschaffen. Kritisch sieht er auch Überlegungen, den politisch mit der Neutralität eng verknüpften Staatsvertrag für obsolet zu erklären. Gegen die in ihm enthaltenen Bestimmungen, etwa das Anschlussverbot an Deutschland oder das Verbot bestimmter Waffen, habe er nichts. Der Staatsvertrag hätte im Jahr 1955 aus sowjetischer Sicht ein Modell für Deutschland werden sollen, erinnerte der frühere Bundespräsident. Doch weder die dortigen Politiker noch die Amerikaner hätten das österreichische Modell auf Deutschland übertragen wollen, das damit bis zum Ende des Kalten Krieges geteilt blieb.
Weniger als an der Neutralität hängt Fischer am Nationalfeiertag 26. Oktober. Für die Sozialdemokratie sei nach dem Zweiten Weltkrieg der 12. November - der Tag der Republiksgründung im Jahr 1918 - "die erste Wahl" gewesen. Dies habe aber die ÖVP anders gesehen, die wiederum für den Staatsvertragstag 15. Mai eingetreten sei. Diesbezüglich habe es damals bei der SPÖ die Befürchtung gegeben, dass der Feiertag von der Partei des damaligen Kanzlers Julius Raab und des damaligen Außenminister Leopold Figl "vereinnahmt" werden könnte. Somit habe man den Tag nach dem Abzug des letzten alliierten Soldaten aus Österreich gewählt. "Vielleicht war es nicht gescheit, vielleicht ist es typisch für Österreich, als Kompromiss."
Besatzungszeit "bedrückend"
Für ihn als Kind sei die alliierte Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg "eine lange Zeit" gewesen. "Die Besatzungsmächte waren irgendwie omnipräsent. In jedem Kabarett sind die Besatzungsmächte vorgekommen, in jeder Wochenschau", erinnerte sich Fischer. Zwar habe er nicht unmittelbar unter der Besatzungszeit gelitten, doch habe man etwa für die Fahrt zwischen Wien und Graz bis zu acht Stunden einrechnen müssen. Fischer erinnerte auch an Termine seines Onkels Otto Sagmeister als Ernährungsminister in der sowjetischen Kommandantur. "Das war immer ein ungutes Gefühl, wenn man dort hingegangen ist. Wenn er nach zwei Stunden nicht zurückgekommen ist, hat schon die Frage begonnen, dauert das so lange, ist da etwas nicht in Ordnung, ist da irgendwas passiert. Also das war schon bedrückend."
Zwar habe sich mit der Zeit die Situation normalisiert, etwa durch eine Abschwächung der Zustimmungsrechte der Alliierten bei Regierungsbeschlüssen. "Dennoch war die Erleichterung im Jahr 1955 riesengroß", erinnert sich Fischer an die Unterzeichnung des Staatsvertrags. Nach dem jahrelangen Tauziehen seien die österreichischen Spitzenpolitiker zunächst skeptisch gewesen, als entsprechende Signale aus Moskau gekommen seien. Der damalige Außen-Staatssekretär und spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky habe aber schon bei der Ankunft in der sowjetischen Hauptstadt aus dem Empfang mit einer Militärkapelle auf gute Erfolgschancen geschlossen. "Wenn sie uns mit so viel Trara empfangen, können sie uns nicht wieder wegfahren lassen", so Kreisky laut Fischer.
NATO-Osterweiterung "hat die Lage offenbar zugespitzt"
Fischer wies den Vorwurf zurück, die Österreich habe sich Moskau zu sehr angebiedert. Die österreichische Politik sei "absolut nicht unkritisch heute gegenüber den Russen". Zugleich wandte er sich gegen eine "Geschichtsklitterung", was die sowjetische Rolle im Zweiten Weltkrieg betreffe. Die russischen Kriegsopfer des Jahres 1945 und ihre Nachfahren könnten nämlich nichts für den aktuellen Krieg von Machthaber Wladimir Putin. "Es ist ein Faktum, dass Russland Millionen Soldaten geopfert hat, um Hitler zurückzuschlagen und damit Länder in Europa zu befreien."
Der Ex-Präsident deutete auch eine Mitverantwortung des Westens für die aktuelle Lage in der Ukraine an. Bei der deutschen Wiedervereinigung sei nämlich Russland die "Versicherung" abgegeben worden, dass sich die NATO nicht weiter nach Osten ausdehnen werde. Dann sei aber das Argument gekommen, dass man Ländern wie Bulgarien oder Rumänien nicht an ihren NATO-Ambitionen hindern dürfe. "Das hat die Lage offenbar zugespitzt und jetzt muss sich jeder sein Urteil bilden, was falsch gelaufen ist, dass wir jetzt in die Situation kommen, dass Russland in völkerrechtswidriger Weise und mit Einsatz von Waffen und Bomben und Raketen und Flugzeugen und Panzern seine Grenze nach Westen verschieben wird. Das sind die Fakten."
"Sehr konkrete Erinnerungen" an Bombenangriffe im Krieg
Sein Eintreten für die Neutralität begründete Fischer auch mit den Kriegserlebnissen als kleiner Bub. Er habe "sehr konkrete Erinnerungen" etwa an die Bombenangriffe der Allierten und welche Angst seine Mutter damals gehabt habe. "Und ich glaube, dass es meine innere, unbewusste Abscheu gegen den Krieg verstärkt hat". Bei den Angriffen habe er in den Kohlenkeller des Hauses fliehen müssen. "Es war mir unheimlich, dieses tiefe Brummen der Bombergeschwader, (...) wie panisch meine Mutter war und wie ihre Hände gezittert haben, wenn sie versucht hat, mir die Hose anzuziehen oder zu helfen beim Anziehen und mich nur gestört hat in Wirklichkeit", so Fischer, der im letzten Kriegsjahr sechs Jahre alt war.
Fischer berichtete, dass sein Vater Rudolf in der NS-Zeit eine Einwanderungserlaubnis in Australien beantragt habe, "aber das ist nichts geworden". Als sogenannter Halbjude habe er Job und Wohnung in Graz verloren, weswegen die Familie nach Wien zu jener des Bruders Otto Sagmeister ziehen musste. Seine Eltern hätten sich im Krieg in der Kunstsprache Esperanto unterhalten, um ihrem Sohn verfängliche Informationen vorzuenthalten. Kurz vor Kriegsende habe sich Rudolf Fischer der Einziehung in den Volkssturm entzogen, indem er bei Bekannten in Oberösterreich untertauchte.
"Ich gehöre nicht zu den Pessimisten in Bezug auf unsere Demokratie"
Der Zukunft sieht der 86-Jährige optimistisch entgegen. "Ich gehöre nicht zu den Pessimisten in Bezug auf unsere Demokratie", sagte er. Die Zweite Republik bestehe nämlich schon vier Mal länger als die Erste Republik und eine "übergroße Mehrheit der österreichischen Bevölkerung" wolle keine Diktatur. Er baue darauf, "dass Österreich ein Land ist, wo wir einen Zusammenbruch der Demokratie in absehbarer Zeit nicht fürchten müssen", sagte Fischer. "Wir werden Fehler machen, wir werden auf unzufriedene Menschen leider stoßen, aber ich glaube, dass wir schon einiges gelernt haben aus der Geschichte und dass ich mich für meine Kinder und hoffentlich auch meine Enkelkinder nicht wirklich fürchten muss."
Mit Blick auf die Kontroversen rund um Nationalratspräsident Walter Rosenkranz (FPÖ) und seine Mitarbeiter sprach sich Fischer dagegen aus, Burschenschafter pauschal aus dem Staatsdienst auszuschließen. Wenn jemand nicht in einer verbotenen Vereinigung sei und von der freien Berufswahl, dem Wahlrecht und dem Recht auf Redefreiheit und Kritik Gebrauch mache, dürfe das "nicht dazu führen, dass der ein Bürger zweiter Klasse ist".
FPÖ habe sich Kanzlerchance "leichtfertig entgehen lassen"
"Wirklich überrascht" zeigte sich Fischer, dass man sich in der FPÖ nach dem Wahlsieg "die Chance, Bundeskanzler zu sein, so leichtfertig und nonchalant entgehen hat lassen". Der seit Anfang März amtierenden Dreier-Regierung gibt er auch Überlebenschancen über die Legislaturperiode hinaus. Bei ÖVP, SPÖ und NEOS merke er nämlich "einen besonderen Willen, vielleicht sogar einen Ehrgeiz zu zeigen, (...) dass auch eine Drei-Parteien-Regierung, die ja nicht einfach zu führen ist, was zusammenbringen kann und was leisten kann. Wenn das der Fall ist, gibt es auch Chancen, dass das in dieser oder jener Form fortgesetzt wird." Es sei auch nicht gesagt, dass die FPÖ bei der Wahl 2029 weiter zulegen müsse. "Es kann auch sein, dass das jetzt ein Zenit war."
(Das Gespräch führten Edgar Schütz und Stefan Vospernik/APA)
Zusammenfassung
- Der frühere Bundespräsident Heinz Fischer warnt zum 70. Jahrestag des Staatsvertrags davor, die Neutralität Österreichs abzuschaffen, und bezeichnet dies als 'riesigen Fehler'.
- Fischer betont, dass der Status als neutrales Land Österreich mehr Schutz biete als 5.000 amerikanische Soldaten auf heimischem Boden und verweist auf den internationalen Ruf und die Rolle als Sitz von UNO und OPEC.
- Er sieht die rechtliche Möglichkeit zur Abschaffung der Neutralität, hält dies aber für unklug und erinnert an die Bedeutung des Staatsvertrags von 1955 für Österreichs Souveränität.
- Fischer begründet seine Ablehnung von Krieg und seine Unterstützung der Neutralität mit seinen eigenen Erlebnissen als Kind während des Zweiten Weltkriegs, insbesondere den Bombenangriffen und der Besatzungszeit.
- Mit 86 Jahren zeigt sich Fischer optimistisch für die Zukunft der österreichischen Demokratie und sieht keine Gefahr eines Systemzusammenbruchs, da die Zweite Republik viermal länger besteht als die Erste.