APA/HELMUT FOHRINGER

Anschlag in Wien: Protokoll des Versagens

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Vier Tote, über 20 Verletzte: Dabei hätten die Indizien bereits im Mai 2020 für eine höhere Gefährdereinstufung und entsprechende Maßnahmen gereicht. Das geht aus den Vernehmungsprotokollen von LVT- und BVT-Beamten hervor.

Es "wäre etwas vollkommen Neues gewesen, dass sich ein Attentäter auf legalem Weg Munition kauft". "Es gab keine Fotos mit ihm im Zusammenhang mit Waffen, er hatte keine Waffenaffinität an den Tag gelegt, er war an keinen Kampfhandlungen beteiligt (…)".  Es sind Sätze wie diese, die nach dem Terroranschlag am 2. November 2020 in Wien mit vier Todesopfern und über 20 teils Schwerverletzten für Kopfschütteln und Entsetzen sorgen. Es sind Sätze, die Ermittler des BVT und LVT bei ihrer Einvernahme durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) tätigten. Es geht um mögliche Verfehlungen und Ermittlungsfehler von Beamten im Vorfeld des Attentats. Eklatante Fehler, von Kommentatoren als "multiples Staatsversagen" bezeichnet, die bereits der Bericht der Untersuchungskommission zum Terroranschlag belegt.

PULS 24 liegen nun exklusiv die Vernehmungs-Protokolle der Ermittler vor. Die über 1.000 Seiten Ermittlungsakten zeigen im Detail was bei den Verfassungsschützern passiert und was leider nicht passiert ist: Fehlinterpretationen, eklatante Kommunikationsprobleme, schleppende und schlampige Ermittlungen, mangelndes und offenbar schlecht geschultes Personal bei den Sicherheitsbehörden.

Vorzeitige Entlassung – durch Zufall erfahren

Das Versagen der Behörden beginnt bereits mit der vorzeitigen Entlassung des späteren Attentäters im Jahr 2019, von der die zuständigen Stellen offenbar nichts wussten und nur über Umwege informiert worden sind: "Anfang Dezember 2019 wurde er aus der Haft bedingt entlassen, wobei wir diese Haftentlassung nur durch Zufall erfahren haben", erklärt ein Beamter des LVT Wien. Der spätere Attentäter wurde bekanntlich im Jahr 2019 nach Paragraf 278b des Strafgesetzbuches - "terroristischer Vereinigung" - zu 22 Monaten Haft verurteilt und im Dezember des selben Jahres unter Auflagen vorzeitig aus der Haft entlassen.

Acht Monate geschieht nichts

Am 19.12.2019 beschließen die Verfassungsschützer, den späteren Attentäter in die RADAR-iTE aufzunehmen – ein Risikobewertungsinstrument zur einheitlichen Bewertung des Gewaltrisikos von Gefährdern. Dafür muss das BVT eine sogenannte ID generieren, dies wird am 8.1.2020 erledigt. Und dann geschieht erst einmal - nichts. Acht Monate lang. Warum? "Weil in diesem Zeitraum eben keine bewertungsrelevanten Sachverhalte (…) bekannt waren", erklärt ein hochrangiger Beamter.

Extremistentreffen im Juli

Als sich im Juli 2020 Dschihadisten aus Deutschland und der Schweiz mit dem späteren Attentäter treffen, reden das BVT und LVT miteinander. Auf Ansuchen der deutschen Behörden wird dieses Treffen vom BVT über Tage observiert. Der spätere Attentäter wird noch während der Überwachung identifiziert. "Es muss jedoch doch noch an einem der fünf Tage der Observation gewesen sein, da sein Name schon auf der mir übermittelten Liste nach Beendigung der Observation aufgeschienen ist", sagt ein BVT-Beamter dazu. "Das unerwartete Auftreten" wurde daraufhin der zuständigen Ermittlungsgruppe mitgeteilt. Es war auch bekannt, dass er auf der Liste der "Foreign Terrorist Fighter" stand, führt ein LVT-Beamter dazu aus.  Passiert ist allerdings nichts, der spätere Attentäter wurde zum Treffen nicht befragt, die Überwachung mit der Abreise der beiden deutschen Dschihadisten eingestellt. 

Munitionskauf im Juli

Nur einen Tag nach dem internationalen Dschihadisten-Treffen in Wien, am 21. Juli 2020, fährt der spätere Attentäter mit einem Bekannten in die Slowakei und versucht, Munition für eine AK-47 zu kaufen. Er scheitert. Slowakische Ermittler informieren die Wiener Behörden über den Vorgang.  Erst am 24. August landet der Akt bei den Ermittlern, ab dem 25. August wird ermittelt. Ein Beamter dazu: "Ich hatte die leise Vermutung, dass es sich bei einer dieser Personen vermutlich um den späteren Attentäter (im Original steht der Name, Anm.) handeln könnte." Weitere Sachbearbeiter sehen das ähnlich. Ebenfalls zu dieser Zeit gab es einen Hinweis aus einer Moschee, dass der spätere Attentäter wieder nach Syrien ausreisen wollte, gibt der Beamte zu Protokoll.

Die Vorgesetzten werden informiert, auch eine Observation wurde nahegelegt. "Die Führungskräfte meinten, dass dies in diesem Stadium noch nicht erforderlich wäre, man möge die Abklärung mit der Slowakei abwarten und dann werde man weitere Maßnahmen beraten", erklärt der Beamte weiter. Dass der spätere Attentäter bereits Tage zuvor beim Dschihadisten-Treffen identifiziert wurde, "war mir sicherlich nicht bekannt". Die rechtlichen Rahmenbedingungen verzögern in diesem Punkt ebenfalls die Ermittlungen. Es ist nicht illegal, im Ausland in einem Waffengeschäft nach Munition zu fragen. Auch erklären die Verfassungsschützer, die Munition könne man legal in Österreich erwerben – laut Auskunft von mehreren Waffenhändlern gegenüber PULS 24 hätten diese zumindest ein Dokument (Waffenpass, Waffenbesitzkarte, Jagdschein) verlangt. Außerdem wäre es für die Ermittler, wie bereits anfangs geschrieben, etwas völlig Neues gewesen, wenn sich ein Terrorist legal Munition besorgt.

Dennoch wird angeordnet, "Maßnahmen zur Abklärung der Person einzuleiten d.h. Vergleichsbilder an das BVT zu übermitteln und zugleich zu ersuchen einen Auslandschriftverkehr einzuleiten". Ebenfalls wird auf Nachfrage angeordnet, "bei Feststehen der Person eine Gefährderansprache durchzuführen". Wieder vergeht wertvolle Zeit:

  • 11.9.2020: Die RADAR-iTE-Erstbewertung wird vom LVT ins BVT geschickt
  • 15.9.2020: Das BVT antwortet, dass der versuchte Munitionskauf noch offen und abzuklären sei.
  • 30.9.2020: LVT schreibt an das BVT, dass es keine gesicherten Informationen zum Munitionskauf hat. 
  • 1.10.2020: Das BVT schickt die nötigen Informationen zum Munitionskauf. Ebenfalls ergeht ein Hinweis, dass es sich beim späteren Attentäter um einen "Grenzgänger bei der Einstufung in das hohe Risiko" handelt und so schnell wie möglich eine Fallkonferenz durchzuführen sei.
  • 7.10.2020: Das LVT schickt die Endfassung der Risikobewertung an das BVT. Die Bewertung ergibt "hohes Risiko".
  • 13.10.2020: Das BVT bestätigt die Risikobewertung auch das "hohe Risiko". 
  • 20.10.2020: Die Antwort aus der Slowakei langt im LVT ein, der spätere Attentäter wird als mutmaßlicher Käufer bestätigt.
  • 20. und 21.10.2020: Die Steuerungsgruppe des RADAR-iTE tagt. Weitere Maßnahmen bezüglich des späteren Attentäters werden festgelegt. "Mit der Antwort aus der Slowakei erteilte das BVT dem LVT-Wien den Auftrag, weitere Erhebungen durchzuführen, die Identität der zweiten Person festzustellen und dann dem BVT zu berichten. Diese Erhebungen wären in weiterer Folge im Rahmen einer Gefährderansprache zu erfolgen gewesen, was auch im Protokoll der Sitzung festgehalten wurde", erklärt ein Beamter.

Die Gefährderansprache ist zeitnah nach dem 3. November 2020 geplant. Das heißt, man wollte den späteren Attentäter zu den Vorkommnissen befragen und vorladen. Fast vier Monaten nach dem möglichen Munitionskauf in der Slowakei sollten dann vergangen sein. Stellt sich die Frage: warum nicht sofort? Es fehlt schlicht auch an den Ressourcen. Die Verfassungsschützer haben andere Prioritäten. Zum einen sind Teile der Verfassungsschützer laut den Aussagen für die Schwerpunktaktion eingeplant, die nach den gewalttätigen Randalen in Wien-Favoriten angeordnet wurde.

Zum anderen sind sie mit der Operation Luxor/Ramses beschäftigt, die am 9. November 2020 durchgeführt worden ist.  Bei dieser Aktion wurden über das gesamte Bundesgebiet Razzien gegen mögliche Anhänger der Muslimbruderschaft in Österreich durchgeführt. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) verfolgte die Aktionen über Video und ließ sich dabei medienwirksam in Szene setzen. Nehammer sprach nach den Razzien von einem wichtigen Schlag gegen den internationalen Terrorismus. Die Aktion wird unter Juristen und Kritikern mittlerweile freilich als Schlag ins Wasser angesehen, bis heute gibt es keine Anklagen. Mehr noch, Anfang August 2021 wurde die Aktion vom Oberlandesgericht Graz als teilweise rechtswidrig erklärt. Mehrere Betroffen wehren sich mittlerweile gegen die Anschuldigungen und gehen juristisch gegen die Republik vor.

"Hohes Risiko" bereits im Mai

Diese Aktion Ramses hätte eigentlich schon am 3. November stattfinden sollen und wird verschoben, da der Attentäter am 2. November 2020 gegen 20 Uhr in der Wiener Innenstadt vier Menschen tötet und über 20 weitere teils schwer verletzt. Nach neun Minuten war er "neutralisiert", also erschossen. Wahrscheinlich auch, weil aufgrund der geplanten Aktion Ramses zahlreiche Einsatzkräfte bereits in Wien waren. Nicht "neutralisiert", aber zumindest stärker überwachen oder aus dem Verkehr ziehen hätte man den Attentäter offenbar bereits im Mai 2020 können – ein halbes Jahr vor dem Terroranschlag. Eine Beamtin des BVT wurde im Zuge der Einvernahmen auch gefragt, ob der Attentäter bereits im Mai als "hohes Risiko" bewertet werden hätte können bzw. müssen:

"Ja, er wäre schon damals im 'hohen Risiko' gewesen. Unter anderem deswegen, weil er mit der vertuschten Ausreise nach SYRIEN und den sonstigen damals vorliegenden Kriterien eine hohe Punkteanzahl erreicht hätte. Die später hinzukommenden Informationen zu der Observation und dem versuchten Munitionskauf hätten nur mehr die Punkteanzahl erhöht. Ich habe dies auch mit den im Mai/Juni 2020 vorliegenden Informationen an Hand des Risikobewertungsbogens noch am 2.11. durchgespielt und führte dies zur Einstufung 'hohes Risiko'".

ribbon Zusammenfassung
  • Vier Tote, über 20 Verletzte: Dabei hätten die Indizien bereits im Mai 2020 für eine höhere Gefährdereinstufung und entsprechende Maßnahmen gereicht. Das geht aus den Vernehmungsprotokollen von LVT- und BVT-Beamten hervor.

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