Wie Wien wählt
So wählt die jüdische Community in Wien
In der Heiligenstädter Straße erinnert heute nur noch ein 'Stolperstein' an Ilay Selas Großvater. Im Alter von nur 13 Jahren musste er 1938 seine dortige Wohnung verlassen, vor den Nationalsozialisten nach Britisch-Palästina, ins heutige Israel, fliehen.
Seine Familie deportierten die Nazis ins Vernichtungslager Maly Trostinez im heutigen Belarus. Alle wurden ermordet.
Ilays Opa sprach danach nie wieder Deutsch. Der Enkel zog 2019 nach Wien. "Aus Liebe für die Stadt", wie er sagt.
Und als israelisch-österreichischer Doppelstaatsbürger kann er am kommenden Sonntag an der Wien-Wahl teilnehmen.
Diverse Community
PULS 24 wollte für die Serie "Wie Wien wählt" von verschiedenen Communities in Wien wissen, wie sie ihre Wahlentscheidungen treffen, welche Themen sie beschäftigen – und hat sich auch in der jüdischen Community umgehört.
-
Mitmachen: Der PULS 24-Wahlrechner
Repräsentative Umfragen, wie Jüd:innen in Wien wählen, gibt es nicht. Die jüdische Community ist äußerst divers: Während in einigen Straßenzügen im Karmeliterviertel Orthodoxe das Straßenbild prägen, gibt es unter den rund 12.000 Jüd:innen in Wien auch zahlreiche Nichtgläubige.
Hinsichtlich Abstammung und Herkunft gibt es die verschiedensten Familiengeschichten: In den letzten Jahrzehnten sind etwa viele bucharische Jüd:innen aus den ehemaligen Sowjet-Republiken nach Österreich gekommen. Genauso heterogen sind wohl die politischen Ansichten der Community.
Ilay Sela
Ilay zog aus Jerusalem nach Österreich. Er arbeitet hier im Sales-Bereich. Der 29-Jährige glaubt, dass es vielen in der jüdischen Community wie ihm geht: Ihn beschäftigen einerseits vor der Wien-Wahl Themen wie Klimaschutz, Bildung und leistbares Wohnen. Er ist "eher gegen" den Lobautunnel, gegen dicht verbaute Wohngegenden, spricht sich für Sonntagsöffnungen und spätere Sperrstunden aus.
Andererseits würden sich viele Jüd:innen in Wien unsicher fühlen. Ilay selbst bezeichnet sich als nicht-religiös, er trägt keine Kippa, ist nicht als Jude erkennbar. Aber er trägt eine Halskette mit der Aufschrift "Bring them home". Es geht um die Geiseln, die die islamistische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 aus Israel in den Gazastreifen verschleppte. Die Kette versteckt Ilay unter seinem T-Shirt. Zu oft sei er auf der Straße, in der U-Bahn wegen ihr schon angefeindet worden.
Es gehe bei der Wahlentscheidung also auch um die Frage, welcher Teil der Identität gerade wichtiger ist: "Will ich Bäume und eine schöne Straße oder will ich mit der Kette stolz nach draußen gehen?"
Es gebe in der Community Menschen, die wegen der Sicherheitslage überlegen würden, rechte Parteien zu wählen, sagt Ilay. Er selbst findet das "falsch", verstehe aber die Logik dahinter.
Welle an Antisemitismus
Wie die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) erst am Mittwoch bekanntgab, sind antisemitischen Fälle im Vorjahr in Österreich um ein Drittel gestiegen. 1.520 Vorfälle wurden 2024 gemeldet. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 sei eine "regelrechte Welle an Antisemitismus hereingebrochen".
Jüdische Einrichtungen wie Synagogen und selbst Schulen müssen in Wien streng bewacht werden.
"Importierter Antisemitismus"
Das Thema Sicherheit nennt auch Viktor Z., 25 Jahre alt, Student und selbstständiger Touristiker, im Gespräch mit PULS 24 noch vor den Themen Bildung, Arbeitsmarkt und Teuerung als entscheidend bei der Wien-Wahl.
Seine Eltern kamen aus der Republik Moldau und aus Bosnien-Herzegowina nach Österreich. Er spricht neben rechtem und linkem Antisemitismus auch den "importierten Antisemitismus" an.
-
Mehr lesen: Jeder Dritte in Wien darf nicht wählen
Viktor erzählt von einer jüdischen Familie, deren Balkon im 23. Bezirk mit Eiern beworfen worden sei. Er erzählt davon, dass Jüd:innen an den öffentlichen Unis in Wien ihre Davidsterne verstecken würden und meint, dass sich vor allem Frauen, aber auch Jüd:innen, die als solche erkennbar seien, auf den Straßen nicht mehr sicher fühlen würden. "Das hätte ich nicht gedacht in Wien", sagt Viktor.
Es brauche an den Unis und in den Schulen "viel mehr Aufklärung", auch über den Nahost-Konflikt. Und: "Alles, was in den letzten 10 Jahren in Sachen Integration passiert ist, war Blödsinn", so Viktor. Denn es sei nie um Inklusion gegangen. Viele Zuwanderer seien "an den Rand der Gesellschaft" verbannt worden, was nun zu Hass und zur Ablehnung "unserer Werte" führen würde.
Warum ist es nun so, dass ich als jüdische Mutter meinen Kindern untersage, den Davidstern oder die Kippa sichtbar zu tragen?
Zuschriften, die PULS 24 aus der jüdischen Gemeinde erhielt, zeigen ähnliche Sorgen: Jasmin beklagt den Mangel an Kinderärzten im sechsten Bezirk, dass Wirtschaftsthemen wie die Schaffung von Arbeitsplätzen oder administrative Erleichterungen für Unternehmen im Wahlkampf zu wenig vorkommen würden.
Sie schreibt aber auch, dass für sie das "friedvolle gesellschaftliche Zusammenleben in unserer Stadt" bei der Wien-Wahl das "allerwichtigste" Thema sei. "Warum ist es nun so, dass ich als jüdische Mutter meinen Kindern untersage, den Davidstern oder die Kippa sichtbar zu tragen?", fragt die 47-jährige Immobilienbetreuerin.
"Das Feindbild kommt vom Elternhaus"
Der 50-jährige Entrepreneur Dezoni schreibt, dass für seine Wahlentscheidung ausschlaggebend sei, "dass die Stadt alles unternimmt, um mich und meine Kinder zu schützen". Es brauche "bessere Konzepte bei den Kleinen und Jugendlichen." Denn, so Dezoni: "Das Feindbild kommt meistens aus dem Elternhaus, daher ist es wichtig, vom Kindergarten weg gegen Extremismus zu kämpfen - ob gegen den radikalen Islam oder die rechten Nazis, macht da kein Unterschied."
Wie Wien wählt
Unternehmensberater Reuven teilt gegenüber PULS 24 mit, dass er "nicht sehr optimistisch" sei, dass seine Kinder eine Zukunft in dieser Stadt hätten.
Er spricht den Bildungsbereich an, wo immer mehr das Gefühl hätten, sie müssten ihre Kinder in Privatschulen schicken und Lehrer in öffentlichen Schulen "völlig alleingelassen" werden. Ihm fehle auch der "Weitblick" in Sachen Unternehmensstandort – Wien hätte kein Alleinstellungsmerkmal.
Reuven meint aber, dass diese Themen keine Faktoren seien, die einen unmittelbar zum Wegziehen bewegen würden. "Der unerhörte Anstieg von Übergriffen auf unsere Gemeinde hingegen schon".
Jüdisches Leben gehört geschützt, vor allem in einem ehemaligen Täterland, wo Antisemitismus leider noch gang und gäbe ist
Integration dürfe laut Reuven "nicht nur ein Buzzword sein, sondern muss eine Bringschuld sein - mit echten und weitreichenden Konsequenzen, wenn sie nicht passiert". Integration dürfe aber nicht mit Assimilation verwechselt werden, betont er.
Jenseits "der teils ehrlich gemeinten, guten Intentionen" sehe er in Wien bei keiner Partei ein glaubwürdiges Konzept gegen Antisemitismus.
Keine wirklichen Bemühungen
Für die 37-jährige Marketing-Expertin Miriam kommt das Thema Sicherheit gleich hinter dem Themen leistbares Wohnen und den Angeboten der Stadt wie die Wiener Linien.
"Es ist natürlich toll, dass Bund und Stadt der jüdischen Gemeinde so viel Sicherheit und Schutz geben. Aber besser wäre es, dort einzugreifen, wo Hassparolen gerufen, Hakenkreuze gemalt, jüdische Friedhof vandalisiert und Juden-Witze erzählt werden. Leider finde ich dass sich, was dieses Thema angeht, keine Partei wirkliche Bemühungen macht", schreibt sie.
Die 24-jährige Studentin Victoria wünscht sich härtere Maßnahmen gegen antisemitische Übergriffe, antisemitische Demos, und dass die Karl-Lueger-Statue "endlich entfernt wird". "Jüdisches Leben gehört geschützt, vor allem in einem ehemaligen Täterland, wo Antisemitismus leider noch gang und gäbe ist", fordert sie.
Ihre Wahlentscheidung habe sie noch nicht getroffen, doch eines ist für sie klar: "Die FPÖ werde ich niemals wählen", schreibt Victoria.
Das kann auch Ilay im Gespräch mit PULS 24 verstehen: "Meine Familie und ich, wir wissen genau, was passiert, wenn jemand an die Macht kommt, der so redet wie Haider und Strache".
- Mehr lesen: Antisemitismus zunehmend "jugendliches" Problem
Wie Wien wählt
Wien wählt, aber wie? PULS 24 ging für die Reportageserie "Wie Wien wählt" auf die Suche – vom Brunnenmarkt bis in die Lugner-City, vom Pflegeheim bis in die Schule, zu den Fiakern und den Würstlern. Und alles dazwischen.
Wir möchten aber auch wissen, was Sie über Wien denken. Was finden Sie gut, was verbesserungswürdig? Teilen Sie es uns mit.
Video: Antisemitische Vorfälle um ein Drittel gestiegen
Zusammenfassung
- Am 27. April entscheidet Wien über seinen neuen Gemeinderat. Wie divers die Wähler:innen sind und wie unterschiedlich Wahlentscheidungen zu Stande kommen, zeigt auch eine Umfrage in Wiens jüdischer Community.
- 2024 wurden in Wien 1.520 antisemitische Vorfälle gemeldet, was einen Anstieg um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.
- Ilay Sela, ein israelisch-österreichischer Doppelstaatsbürger, thematisiert die Sicherheitsbedenken der jüdischen Community.
- Viktor Z. betont die Bedeutung von Bildung und kritisiert den 'importierten Antisemitismus' als Problem.
- Jasmin und andere Mitglieder der jüdischen Community fordern stärkere Maßnahmen gegen Antisemitismus und betonen die Notwendigkeit von Integration.