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Kinderdarsteller ausgenützt? Ulrich Seidl äußert sich zu Vorwürfen

Am 9. September soll Ulrich Seidls Spielfilm "Sparta" Weltpremiere feiern, doch Kinder-Laiendarsteller und deren Familien machen ihm massive Vorwürfe: Die Familien seien nicht korrekt über das Filmthema Pädophilie informiert worden, Kinder hätten nach dem Dreh geweint und seien unter Druck gesetzt worden. Seidl selbst sieht seine Arbeitsweise diffamiert.

Der Österreicher Seidl, 69, ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Filmemacher der Gegenwart. Filme wie "Hundstage" (2001), "Import Export" (2007) oder "Paradies: Liebe" (2012) laufen auf den großen Festivals in Venedig, Cannes, Berlin. Er bricht Tabus und kommt der Wirklichkeit in seinen Filmen ungewöhnlich nah. Nun werden aber schwere Vorwürfe gegen den Österreicher laut. 

Mitwirkende am Film "Sparta" schildern gegenüber dem "Spiegel" etwa, dass minderjährige Laiendarsteller - im Alter von neun bis 16 Jahren - unvorbereitet mit Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit konfrontiert worden sein sollen. Die Eltern sollen zudem bewusst im Unklaren darüber gelassen worden sein, dass es im Film um Pädophilie geht. Der Film handelt von einem "scheinbar impotenten" Pädophilen, der "vorpubertierenden Jungen" in verlassenen Schulgebäuden Kampfsport beibringt - er soll am 9. September Weltpremiere feiern.

Umfassende Recherche

Der "Spiegel" hat nach eigenen Angaben über ein halbes Jahr in Deutschland, Österreich und Rumänien zu den Vorwürfen recherchiert und mit Dutzenden Mitarbeitern Seidls gesprochen. Darunter neun Personen, die beim Dreh in Rumänien im Winter 2018/19 und im Sommer 2019 dabei waren, sieben minderjährige und zwei erwachsene Laiendarsteller sowie mit den Erziehungs­berechtigten von acht Kindern.

"Es hat sich echt angefühlt", wird da etwa ein 13-Jähriger zitiert. "Was für Seidl im Spiel passierte, passierte für ihn in Wirklichkeit", schreibt der "Spiegel". Der alkoholisierte Mann, ebenfalls Laiendarsteller, habe ihn an seinen eigenen Vater erinnert, einen gewalttätigen Alkoholiker, vor dem die Mutter mit ihm und seinem Bruder erst wenige Monate vor dem Dreh geflohen war.

Mehrere Setmitarbeiter sollen dem Magazin gesagt haben, sie hätten gewusst, dass der Junge mit einem alkoholkranken und gewalttätigen Vater aufgewachsen sei. Einer berichtet, ihm sei durch Kollegen zugetragen worden, der Junge komme aus einer Familie, wie sie im Film dargestellt werde. "Und dass der Seidl genau weiß, wie man den Marian triggern kann und wie man zu dem Ergebnis kommt, dass es irgendwie emotional wird." Seidl wollte das offenbar nicht kommentieren. 

Nachdem die Szene abgebrochen worden war, sei der Junge aus dem Haus gegangen und habe geweint, soll sich eine weitere Person gegenüber dem "Spiegel" erinnern. Ein Crewmitglied erinnert sich, der Junge habe gesagt, er wolle nicht mehr weiterfilmen. Doch jemand aus Seidls Team habe ihn unter Druck gesetzt. Laut Seidls Anwalt hätten sich zwei Bezugspersonen um das weinende Kind gekümmert.

Weinendes Kind gefilmt

Eine andere Personen, die scheinbar am Set anwesend waren, berichten von einem anderen Kind, das sich übergeben musste. Bei einer Szene soll ein rumänisches Kind von Alkoholisierten angeschrien und berührt worden sein. Als das Kind zu weinen begann, soll Seidl die Kamera noch zehn Minuten laufen haben lassen. 

Eine Mitarbeiterin Seidls widerspricht außerdem der Darstellung des Produktionsleiters, dass die Kinder im beim Dreh im Sommer 2019 von Betreuungspersonen beaufsichtigt worden seine und gibt an, dass beim Filmdreh im Winter durchaus eine Person für Casting und Betreuung gleichzeitig zuständig gewesen sei. 

"Haben uns betrogen, weil wir arm sind"

Eine Psychologin sei weder im Sommer noch im Winter am Set anwesend gewesen. Und offenbar auch niemand, der die Kinder auf ihre Rollen vorbereitete. Mehrere Kinder berichten, sie hätten irgendwann nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Oft hätten die Kinder auch nicht gewusst, dass gerade gefilmt werde, berichtet eine von Seidls ehemaligen Mitarbeiterinnen. Ein Vater sagte laut "Spiegel": "Ich glaube, sie haben uns betrogen, weil wir arm sind."

Körperliche Übergriffe

Auch zu körperlichen Übergriffen soll es bei den Dreharbeiten gekommen sein. So beobachteten zwei Mitarbeiter, dass ein Junge bei einer Szene vor der Schule sein Shirt ausziehen sollte. Doch er habe das nicht gewollt und sich gewehrt. Die Regieassistentin habe dem Jungen das Hemd am Ende weggerissen. "Sie hat ihn ausgezogen, und er hat versucht, sich zu wehren. Sie ist aber mit dem Leiberl weg und hat es dann irgendwo in die Ecke geworfen." Der Junge habe versucht, sich das Tanktop zurückzuholen. Sie habe ihn an den Schultern gepackt, geschüttelt und gesagt, das müsse er jetzt machen.

Ein weiterer Vorwurf an Seidl: Als "Alkoholiker" beschriebene Laien sollen für eine Szene wütende Dorfbewohner gespielt haben. Einer schildert dem "Spiegel" selbst: Wenn er trinke, werde er sehr aggressiv, sagt er. Trotzdem habe er von der Filmcrew vor den Drehs Alkohol angeboten bekommen.

"Sadistisches Vergnügen von Seidl"

Eine Mitarbeiterin, die an diesem Tag den Dreh beobachtete, sagt, da seien zwei "vulnerable Gruppen" aufeinandergehetzt worden. "Da habe ich das erste Mal dieses sadistische Vergnügen von Seidl gesehen, diese alkoholisierten Männer auf Kinder loszulassen." Der Laienschauspieler soll zugegeben haben, dass er eines der Kinder am Ohr gepackt habe, doch es sei dem Regisseur nicht fest genug gewesen.

Seidls Hauptdrehort Baba Novac ist ein kleines Dorf, einige Kilometer außerhalb der Stadt Satu Mare im Norden Rumäniens. Fast alle von Seidls Laiendarstellern wurden hier in der Gegend gecastet. Der Vorfall mit dem Ohr hat schließlich auch die rumänischen Behörden auf den Plan gerufen, wie der "Spiegel" berichtet. Doch: Im abschließenden Bericht werden die Zeugenaussagen von sechs Minderjährigen aufgeführt, die angeben, dass sie während des Filmdrehs weder verbal noch körperlich oder sexuell belästigt worden seien. Der Name Ulrich Seidl Filmproduktion tauche im Bericht nicht auf. Im Februar 2022 wurden die Ermittlungen eingestellt, so das Magazin. Die Polizisten hätten eher den Eltern vorgeworfen, ihre Kinder an den Film verkauft zu haben, wird ein Vater zitiert. 

Seidl: Vorwürfe weit weg von Wirklichkeit

In einem Statement spricht Ulrich Seidl davon, dass vom "Spiegel" "unzutreffende Darstellung, Gerüchte oder aus dem Kontext gerissene Vorkommnisse am Set von 'Sparta' zu einem in keiner Weise den Tatsachen entsprechenden Zerrbild montiert" werden. "Meine Arbeitsweise [wird, Anm.] diffamiert und mir Intentionen unterstellt, die weiter weg von der Wirklichkeit gar nicht sein könnten", heißt es vonseiten des Erfolgsregisseurs.

"Habe größten Respekt"

"In allen meinen Filmen, in meinem gesamten künstlerischen Werk verlange ich nach Empathie für die Angeschlagenen und Abgestürzten, für die Abgedrängten und Geächteten: Ich stelle sie nicht an den (moralischen) Pranger, sondern fordere dazu auf, sie als komplexe und auch widersprüchliche Menschen wahrzunehmen", so Seidl: "Die daraus sich ergebenden Ambivalenzen zwischen Fürsorge und Missbrauch zu erkennen und zu beschreiben, hinzuschauen, anstatt weg zu sehen und sie damit auszublenden - darin sehe ich eine wesentliche Verantwortung - als Künstler und als Mensch. Ich habe größten Respekt vor allen Darsteller:innen und niemals würde ich Entscheidungen treffen, die ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden in irgendeiner Art und Weise gefährden."

Die Kinderdarsteller seien wie alle anderen Schauspielerinnen und Schauspieler niemals gedrängt worden, vor der Kamera Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. Auch seien die jugendlichen Darsteller durchgehend betreut worden. Und selbstredend seien die Eltern vor den Dreharbeiten über alle wesentlichen Inhalte des Films unterrichtet worden, stellt Seidl die vom "Spiegel" gemachten Vorwürfe in Abrede: "Nie haben wir beim Dreh die Grenzen des ethisch und moralisch Gebotenen überschritten."

Seidls Anwalt weist Vorwürfe zurück

Auch Seidls Anwalt teilte dem "Spiegel" mit, dass es im Film keinerlei sexuellen Kontext gebe, auch keine pornografischen oder pädophilen Szenen, kein Kind sei "nackt oder in einer sexualisierten Situation, Pose oder Kontext gedreht worden". Außerdem beharre der Anwalt darauf, dass die Eltern informiert worden seien. Dabei sei darauf hingewiesen worden, dass es um einen Erwachsenen gehen soll, "der sich zu Jungen hingezogen fühlt, eine Art Vaterstelle einnimmt". Dabei soll sich der Anwalt aber vor allem auf die Zeit von Winter 2018 bis Sommer 2019 beziehen - die Vorwürfe würden aber vor allem Sommer 2019 betreffen.

Eltern wollen Film-Start verhindern

Während Seidl mit "Sparta" in Toronto und San Sebastián auftreten soll, seinen "die Eltern wütend auf den Regisseur. Erst durch die Recherche des "Spiegel" haben sie erfahren, dass es in dem Film auch um Pädophilie geht. Sie fühlen sich betrogen. Die Eltern von acht minderjährigen Laienschauspielern sagen, dass sie dem Dreh nicht zugestimmt hätten, wenn sie von dem Thema gewusst hätten. Sie wollen nicht, dass der Film erscheint", schreibt das deutsche Magazin.

Der Artikel wurde am 2.9.200 um 17:11 Uhr um die Stellungnahme Seidls ergänzt. 

ribbon Zusammenfassung
  • Am 9. September soll Ulrich Seidls Spielfilm "Sparta" beim Filmfestival Toronto seine Weltpremiere feiern, bevor er eine Woche darauf auf dem Festival von San Sebastian im Wettbewerb läuft.
  • Wie nun das deutsche Wochenmagazin "Spiegel" berichtet, gibt es seitens der jugendlichen rumänischen Laiendarsteller und deren Familien massive Vorwürfe.
  • Die Familien seien nicht korrekt über das Filmthema Pädophilie informiert worden, Kinder hätten nach dem Dreh geweint und seien unter Druck gesetzt worden.
  • Ulrich Seidl wehrt sich in einer Stellungnahme und fühlt seine Arbeitsweise "diffamiert".