Vučić "setzt auf Gewalt"
Brutale Polizeigewalt in Serbien: "Jedes Schweigen nicht akzeptierbar"
Eine Gruppe von Polizisten, die einen Jugendlichen mit Schlagstöcken brutal verprügelt. Ein Video, auf dem etwa 20 junge Menschen auf dem Boden kniend, mit dem Gesicht zur Wand und den Händen am Rücken zu sehen sind, während Polizisten hinter ihnen stehen. Und eine Demonstrantin, der von einem Polizeikommandant mit Vergewaltigung gedroht wurde.
Das sind nur wenige Geschichten, die derzeit im Netz kursieren und die Welt schockieren. Und sie stammen nicht etwa von irgendwo weit weg - sie kommen aus dem EU-Kandidatenland Serbien.
Regime "zentrale Quelle der Gewalt"
Nach über neun Monaten großteils friedlicher Proteste eskaliert die Lage auf den serbischen Straßen. Und für diese Gewalt zentral verantwortlich ist die serbische Regierung, sagt Balkan-Experte Vedran Džihić.
Von Beschwichtigungen am Anfang über Leugnung bis hin zu Repression, Druck und medialen Kampagnen: Serbiens Präsident Aleksandar Vučić habe alles versucht, um die mittlerweile seit vergangenen November andauernden Anti-Regierungs-Proteste "im Keim zu ersticken".
Nachdem die Proteste auch über den Sommer nicht aufgehört haben, setze Vučić nun "zunehmend auf Gewalt". Und das sehe man auch an der brutalen Polizeigewalt, so der Balkan-Experte.
Vučić setze Schlägertrupps gegen Demonstranten ein
Aber auch "Schlägertrupps" setze der serbische Präsident ein, die dann auf der Straße gewaltsam gegen die Protestierenden vorgehen. Boulevardmedien dienen als "medialer Verstärker", der "diese Gewalt und das, was von den Schlägertrupps kommt, immer so ein bisschen normalisiert, banalisiert, verherrlicht", sagt Džihić.
Auch eine Gegenbewegung zu den Anti-Regierungs-Demos hat der Präsident gestartet. Diese bestehe aus "Halbkriminellen, aus Menschen, die von der Partei bezahlt werden, die teilweise auch aus dem Kosovo herangekarrt werden".
"Damit hat Aleksandar Vučić Serbien de facto in einen politischen und institutionellen Ausnahmezustand hineinmanövriert, wo die regulären Mechanismen zum Umgang mit politischen, gesellschaftlichen Fragen und Konflikten bewusst, gewollt und gezielt vom Regime außer Kraft gesetzt werden."
Ganzes Gesellschaftssystem "im Trauma-Zustand"
"Eigentlich könnte man fast sagen, dass sich das ganze Gesellschaftssystem in einem Trauma- oder Dämmerzustand befindet, wo die Normalisierung der Gewalt vorangeschritten ist und wo die sonstigen in demokratischen Staaten üblichen regulären Wege, um Konflikte auszutragen, eigentlich nicht mehr vorhanden sind", so Džihić.
Auch bei den Demonstrierenden seien "Wut, Zorn und Unzufriedenheit" angestiegen. Diese hätten immer auf friedliche Proteste und die demokratische Ausverhandlung von Dingen gesetzt und bei den meisten sei das immer noch so. "Es gibt aber kleinere Gruppen, bei denen es so ist, dass sie auf die Gewalt und Repression des Regimes auch mit aus dem Zorn geborenen Versuchen der Gegengewalt reagieren."
Das könne man aber keinesfalls mit dem Regime gleichsetzen - dieses ist laut dem Balkan-Experten "eindeutig und zentral die Quelle" der Gewalt.
Ein Video aus der Stadt Novi Sad, das junge Menschen auf dem Boden kniend und mit Handschellen gefesselt zeigt, führte zu großer Kritik von Oppositionspolitiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen.
"Sehr gewiefte Propagandastrategie"
Vor der Welt will der serbische Präsident den Eindruck hinterlassen, er würde sein Land demokratisch regieren: Beim Besuch des österreichischen ÖVP-Kanzlers Christian Stocker in Belgrad vor wenigen Wochen, sagte Vučić, die Proteste seien "nicht so massiv, aber ziemlich gewaltsam". Er sei stolz, dass Serbien aber "demokratisch" darauf reagiert habe. Er sei schließlich "kein Diktator".
Und auch in Serbien gebe es einen "taktischen narrativen Zug" von Vučić. So versuche dieser in den letzten Wochen "die Gewalt, die vom Regime ausgeht - hauptsächlich und vorrangig – den Protestierenden in die Schuhe zu schieben", betont der Balkan-Experte. "Er spricht von Chaos, von brutalen Demonstrierenden, die den Staat stürzen wollen und vom Westen bezahlt werden und beschwört dieses Bild des Bürgerkriegs."
"Im selben Atemzug" versuche Vučić sich selbst als "Quelle der Stabilität und eines anständigen Serbiens zu positionieren". Eine "sehr gewiefte Propagandastrategie", die vor allem darauf abziele, sich die Unterstützung von Menschen zu sichern, die noch zu ihm stehen. Das seien vorrangig ältere Menschen und Menschen, die "abhängig von den Strukturen seiner Partei und des Staates sind".
"Jedes Schweigen nicht akzeptierbar"
Sehr viel Polizeigewalt und Einsatz von Schlägertrupps, die es seit Anfang der Proteste immer schon gegeben hat, hätten bisher "nie den Weg in die großen westlichen Medien gefunden".
Auch westliche Staaten, darunter die EU, seien in den vergangene Monaten "sehr still geblieben", sagt der Balkan-Experte. Nun kämen zunehmend kritische Stimmen aus europäischen Ländern - aus der Europäischen Kommission und der höchsten Ebene aber noch nicht.
Mittlerweile sei aber "jedes Schweigen unhaltbar und nicht akzeptierbar", betont Džihić. Die Bilder der Gewalt des Regimes seien "so eindeutig, dass sie durch nichts mehr zu erklären sind".
"Es handelt sich um einen Kandidatenstaat für die Mitgliedschaft in der EU. Die Polizeigewalt erinnert eher an Polizeigewalt, die wir vielleicht eher aus dem weißrussischen und sonstigem Kontext kennen. Und ich glaube da müsste jetzt schrittweise auch die EU, so wie es auch die öffentliche Meinung mittlerweile in Europa tut, klare Worte der Verurteilung finden und die Zusammenarbeit mit Aleksandar Vučić und mit seinem Regime überdenken."
EU "untergräbt eigene Normen und Werte"
"Ich gehe davon aus, dass es in den westlichen Hauptstädten und in der EU keine Illusionen gibt, was für ein Machthaber Aleksandar Vučić ist", sagt der Balkan-Experte. Dieser habe aber auch Verbündete: Einer der wichtigsten sei Viktor Orbán, der Vučić jederzeit den Rücken stärke. Aber auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen "hat bislang eine recht pragmatische Beziehung zu Vučić gehabt".
Džihić betont, dass es schnell eine "deutliche Kurskorrektur" brauche. "Ansonsten untergräbt die EU ihre eigene Glaubwürdigkeit und auch die eigenen Normen und Werte". Die EU würde damit ihre Glaubwürdigkeit bei demokratischen Kräften in Serbien und darüber hinaus verlieren und sich das Recht verwirken, in anderen ähnlichen Fällen "auch irgendein Sagen zu haben".
"Wenn man in einem Kandidatenland bei so einem massiven Einsatz der Gewalt schweigt, wo die rote Linie längst überschritten ist, dann schneidet man sich ins eigene Fleisch", betont der Balkan-Experte.
Zusammenfassung
- Massive Polizeigewalt, Schlägertrupps und Medien, die Gewalt "normalisieren und banalisieren".
- An der Spitze steht Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, der das Bild vermitteln will, er würde sein Land "demokratisch" leiten.
- Eine Einordnung.