Reportage
Kosovo: Junges Land, alte Frage
Pristina, September 2025: Am Boulevard "Mother Teresa" ist an diesem sonnigen Nachmittag kaum ein Platz frei. Cafétische stehen dicht gedrängt, Stimmen schieben sich übereinander, Gläser klirren und der Geruch von Kaffee hängt in der warmen Luft.
Aus einem offenen Fenster dringt Popmusik, ein paar Schritte weiter mischt sich Englisch in das sonst albanische Gespräch, dazwischen ein serbisches Wort, beiläufig, ohne Irritation. Niemand bleibt stehen, niemand schaut sich um. Pristina wirkt beschäftigt mit sich selbst und auffallend jung.
Fast alle hier sind unter dreißig. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Kosovo gehört zu dieser Generation. Sie ist in Frieden geboren, aber in ein Land hineingewachsen, dessen grundlegende Fragen bis heute offen sind. Der Kosovo ist das jüngste Land Europas. Doch die Fragen, die ihn prägen, sind älter als seine Unabhängigkeit.
Wehende Fahnen
Pristina trägt diesen Widerspruch offen zur Schau. Zwischen Universitätsgebäuden, Clubs und Co-Working-Spaces hat sich eine urbane Szene etabliert, die sich selbstverständlich nach außen orientiert. Englisch ist Alltagssprache, nicht aus Abgrenzung, sondern aus Nähe. Die Flagge der Europäischen Union hängt an Fassaden, daneben jene der Vereinigten Staaten. Straßenschilder tragen die Namen früherer amerikanischer Präsidenten – aus Dankbarkeit für die Unterstützung der USA im Kampf um die Unabhängigkeit des Landes.
Gleichzeitig liegt unter dieser Leichtigkeit eine Spannung, die sich nicht wegreden lässt. Die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen gehört zu den höchsten in Europa. Wer studiert, weiß oft schon vor dem Abschluss, dass ein Titel allein keine Sicherheit bedeutet. Viele hangeln sich von Projekt zu Projekt, von Hoffnung zu Hoffnung. Politik wirkt dabei fern, schwer greifbar, fast wie ein eigenes System. Nur wenige glauben, dass Regierung oder Parlament ihre Interessen tatsächlich vertreten.
Harmonie und ihre Helden
Kosovos Frieden und Zukunft werden zu einem großen Teil durch private Initiativen und persönliches Engagement vorangetrieben. Das wissen lokale wie auch internationale Politiker:innen und bemühen sich, ihrer Wertschätzung Ausdruck zu verleihen.
Aus diesem Grund steigen an einem regnerischen Nachmittag junge Menschen in Hemden und Sommerkleidern, Diplomat:innen, Aktivist:innen und Fotograf:innen einen steilen Pflasterweg hinauf.
Es ist die Verleihung der "Harmony Hero Awards", an keinem geringeren Ort als der Residenz des deutschen Botschafters. Die Atmosphäre ist feierlich, beinahe erwartungsvoll, als müsste sich hier zeigen, dass Engagement stärker sein kann als Ernüchterung.
An diesem Abend spricht auch Jeton Zulfaj, Berater des Premierministers. Er tritt ruhig und kontrolliert auf, mit dem Tonfall eines Mannes, der weiß, dass seine Worte Gewicht haben sollen. "Es ist nun an euch", sagt er, "Brücken zu bauen und Mauern niederzureißen, Vertrauen zu schaffen und an einer Zukunft in Einigkeit zu arbeiten." Der Applaus ist zustimmend, aber zurückhaltend. Verantwortung schwingt mit, schwer und unausgesprochen.
Eine frühere Preisträgerin erzählt von ihrer persönlichen Reise und betont, warum es gerade die junge Generation brauche: "Auf meiner Suche nach Helden bin ich um die Welt gewandert", sagt sie, "nur um sie unter uns zu finden." Der Satz bleibt im Raum hängen. Hoffnung liegt darin, aber auch eine Zumutung. Diese Generation soll tragen, was andere hinterlassen haben.
Bereit zu Reisen
Der Aufbruch im Kosovo ist nicht nur eine bloße Metapher für eine Stimmung, er ist Tatsache. Rund 28 Prozent der über 18-jährigen Kosovar:innen geben an, in den kommenden Jahren ihre Heimat verlassen zu wollen. Migration ist hier kein Aufbruchsmoment, sondern ein Zustand. Kaum eine Biografie bleibt an einem Ort, fast jede setzt sich jenseits der Grenze fort. Familien verteilen sich über Länder, Einkommen, Konten, Zukunft über mehrere Adressen.
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Seit Anfang 2024 hat sich etwas verschoben. Inhaber kosovarischer Pässe dürfen visafrei in den Schengenraum reisen. Was früher Anträge, Wartezeiten und Ablehnungen bedeutete, ist nun eine Grenzkontrolle, ein Stempel, ein Weitergehen. "Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich nicht erklären muss, warum ich da bin", sagt der 26-jährige Sabri, der gerade zu Besuch in der Heimat ist, im Gespräch mit PULS 24. "Ich bin einfach gegangen." Europa ist damit nicht mehr nur Vergleich oder Versprechen, sondern Erfahrung. Für viele fühlt sich das wie Freiheit an. Für andere wie eine neue Unruhe.
Weniger Zuversicht im Norden
In Kosovos Norden verändert sich die Stimmung. Die Landschaft wird weiter, die Gespräche leiser. Je näher man der Stadt Mitrovica kommt, desto deutlicher wird, dass der Kosovo nicht nur eine Richtung kennt. Mitrovica ist eine geteilte Stadt. Der Fluss Ibar zieht eine Linie, die mehr ist als Geografie. Südlich des Wassers leben überwiegend Albaner:innen, nördlich Serb:innen. Die metallene Brücke zwischen beiden Seiten wirkt unscheinbar und ist doch hochsymbolisch. Sie darf nur zu Fuß überquert werden. Italienische Carabinieri stehen an beiden Enden, wachsam, routiniert, sie gehören genauso zur Stadt wie der Beton und das Geländer.
Viele Jugendliche verbringen ihr gesamtes Leben auf nur einer Seite dieses Flusses. Schulen, Cafés, Sportvereine, alles ist weitestgehend getrennt. Begegnung ist selten, oft organisiert, oft begleitet. Wer hier jung ist, lernt früh, wo man hingeht und wo nicht.
Mitrovica gilt als Gradmesser. Hier verdichtet sich, was im ganzen Land ungelöst ist. Der Krieg der Neunziger Jahre ist allgegenwärtig, auch wenn viele ihn nur aus Erzählungen kennen. Nach Jahren der Repression griff die NATO militärisch ein. Die Bombardierungen beendeten einen akuten Konflikt, schufen aber neue Brüche. 2008 erklärte der Kosovo seine Unabhängigkeit, eine Entscheidung, die bis heute nicht von allen anerkannt wird.
Im Norden ist das Misstrauen gegenüber dem Westen spürbar. Englisch wird gemieden, der Euro kaum akzeptiert, obwohl er eigentlich die offizielle Landeswährung ist.
Internationale Truppen werden nicht als Schutz, sondern als Erinnerung an den Verlust wahrgenommen. Graffiti, verlassene Gebäude und Mahnmale erzählen von einem Konflikt, der vorbei sein sollte und doch bleibt. Milica (21), eine Studentin an der örtlichen Universität, findet deutliche Worte: "Während ihr euch die Frage stellt, ob wir nun Serben oder Albaner sind, müssen wir uns fragen, wer wir werden wollen, wo wir hingehören. Die kosovarische Regierung sieht uns als Bedrohung, die serbische hat uns längst vergessen. Wir wollen endlich faire Chancen und sonst nur unsere Ruhe."
Die Trümmer des Krieges
Der Kosovo gilt heute als eines der stabileren Länder des Westbalkans. Demokratische Prozesse funktionieren, internationale Kooperationen wachsen. Gleichzeitig bleiben Korruption, Abwanderung und Armut tief verankert.
Die Jugend reagiert darauf pragmatisch. Sie organisiert sich selbst, gründet Initiativen, schafft Räume, in denen Zukunft wenigstens vorstellbar wird. Auch im Gespräch mit PULS 24 äußern sich junge Kosovar:innen überwiegend optimistisch. Sie sehen in Europa einen verlässlichen Partner und wünschen sich vor allem eines: eine friedliche und selbstbestimmte Zukunft.
Diese Reportage ist im Zuge des Projektes "Eurotours 2025" des österreichischen Bundeskanzleramtes entstanden. Verfasst wurde der Text von Maximilian Handl.
Die täglichen Einträge während der Recherchereise können im Eurotours Reiseblog nachgelesen werden: "eurotours" 2025 — eurotours-reiseblog.eu
Zusammenfassung
- Wie fühlt sich Zukunft an, wenn sie überall spürbar ist und doch nie ganz greifbar wird?
- Im Zuge von Eurotours 2025 war PULS 24 vor Ort.
