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Reportage

Schwedens Jugendarbeitslosigkeit: Wo kein Problem, da keine Lösung

Heute, 09:21 · Lesedauer 8 min

Schweden gilt in vielen Bereichen als Vorreiter und rankt im internationalen Vergleich hoch in Sachen Wirtschaft, Gesundheit oder Wissenschaft. Ganz vorne mit dabei ist das Land allerdings auch bei der Jugendarbeitslosigkeit. PULS 24 hat sich vor Ort auf die Suche nach Erklärungen und Lösungen begeben.

"Manche meiner Freunde suchen schon seit einem Jahr oder länger ohne eine Aussicht auf einen Job", erzählt die 17-jährige Ester Lundgren. Sie ist eine von vielen jungen Schwed:innen, die den Berufseinstieg als schwierig empfinden. Im Interview mit PULS 24 berichten sie von Zukunftsängsten und einem schwer zugänglichen Arbeitsmarkt für junge Menschen.

Schwedens Jugendarbeitslosigkeit zählt zu den höchsten in Europa

Tatsächlich zählt Schwedens Jugendarbeitslosigkeit zu den höchsten in Europa. Laut einer aktuellen Eurostat-Erhebung liegt diese bei 23,8 Prozent. Schwed:innen im Alter von 15 bis 24 Jahren sind demnach dreimal so häufig arbeitslos wie die Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Österreich liegt mit zehn Prozent sogar unter dem EU-Schnitt von 14,4 Prozent. 

Auch die 18-jährige Frida Edfelt schickt über Monate zahllose Bewerbungen aus, ohne fündig zu werden. "Man hört nur zurück, man hat nicht genug Erfahrung, nicht genug Ausbildung, aber das ist schwierig in meinem Alter. Es ist wirklich ein großes Problem. Ich habe das Gefühl, die schwedische Regierung beschäftigt sich nicht damit, aber es braucht jetzt eine Veränderung", klagt sie. Doch wer in Schweden über Jugendarbeitslosigkeit sprechen möchte, sieht sich schnell mit einer Relativierung konfrontiert: die Zahlen seien nur so hoch, da das schwedische Statistikinstitut Studierende mit einbezieht, die etwa 40 Prozent der Jugendarbeitslosen ausmachen. Auch hält sich hartnäckig das Gerücht, in anderen Ländern würde man diese nicht hinein rechnen. Die Inklusion von Vollzeit-Studierenden sei laut OECD allerdings internationaler Standard bei der Datenerhebung von Jugendarbeitslosigkeit.

 "Wer die tatsächlichen Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit wissen will, muss die Studierenden abziehen", erklärt Anders Forland, Forscher am regierungsnahen Institut IFAU, das die nationale Arbeits- und Bildungspolitik evaluiert: "Jugendarbeitslosigkeitsphasen dauern meistens nur sehr kurz, die Mehrheit hat kein Problem damit, in den Arbeitsmarkt einzutreten." Die hohen Zahlen für Jugendarbeitslosigkeit sollten seiner Meinung nach nicht als Indikator für ein soziales Problem verstanden werden.

Anders sieht das Peter Gladoic Hakansson, Wirtschaftsprofessor an der Universität Malmö, auch hält er eine solche selektive Betrachtung der Statistik für falsch: "Wir können uns nicht aussuchen, wie wir Arbeitslosigkeit berechnen, deshalb gibt es internationale Standards". Mit Jugendarbeitslosigkeit beschäftigt er sich bereits seit über 10 Jahren und beobachtet dabei sehr wohl strukturelle Hürden, die den Berufseinstieg erschweren und zu Langzeitarbeitslosigkeit führen können. 

"Der Berufseinstieg als Outsider ist hart"

Dass der schwedische Arbeitsmarkt gerade für junge Menschen nicht besonders zugänglich ist, liegt multiplen Ursachen zugrunde. Zwei Einflussfaktoren heben sich im Zuge der Recherche allerdings besonders hervor: ein unflexibles Bildungssystem und ein intransparenter Recruiting-Prozess.

Bei einer Umfrage des schwedischen Arbeitsamts gaben 70 Prozent der Neurekrutierten an, erstmals von ihrer derzeitigen Stelle durch Freunde, Familie, soziales Kapital, soziale Kontakte oder Netzwerke erfahren zu haben. Die Konsequenz tragen laut Gladoic Hakansson vor allem junge Menschen und Migrant:innen, die seltener über solche Netzwerke verfügen: "Wenn man erst einmal im Arbeitsmarkt ist, ist es viel einfacher, einen weiteren Job zu bekommen. Und wenn man ein Außenseiter ist, hat man enorme Schwierigkeiten, überhaupt hineinzugelangen." Beim Bewerbungsprozess auf Empfehlungen zurückzugreifen, sei eine Kostensparmaßnahme der Arbeitgeber:innen. Ein Trend, der seit den 90ern zunimmt.

Das trifft auch auf Lars (Name von der Redaktion geändert) zu. Wie einige seiner Schulfreund:innen und Verwandten hat er seine ersten Berufserfahrungen nämlich am Arbeitsplatz seines Vaters gesammelt. Auf die Frage, ob der 25-Jährige jemanden kennt, der für den allerersten Job nicht auf Bekannte zugegangen ist, folgt erstmal Schweigen. "Ich muss kurz nachdenken." Dann: "Zwei meiner Schulfreunde haben sich einfach so beworben, aber sonst fällt mir niemand ein." Auch er hofft, nach Abschluss seines Studiums durch Bekannte einen Job vermittelt zu bekommen. Diese Form des Recruiting sorgt laut Gladoic Hakanssons für einen lose-lose-Effekt. Denn gleichzeitig gibt es zahlreiche unbesetzte Stellen.  "Was wir beobachten, ist, dass das Verhältnis zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen gewachsen ist. Das bedeutet, dass der Vermittlungsprozess am schwedischen Arbeitsmarkt immer ineffektiver wird." 

Ein unflexibles System 

In Schweden gibt es keine Lehrberufe, so wie man sie in Österreich oder Deutschland kennt. Wer eine praktische Berufsausbildung absolvieren möchte, kann das durch ein sogenanntes Vocational Training in der Schule machen. Der wichtigste Unterschied: Dabei handelt es sich im Vergleich zur Lehre um kein Anstellungsverhältnis. Auszubildende werden demnach nicht offiziell im System als Teil der arbeitenden Bevölkerung erfasst. Mit weitreichenden Folgen: so zählt diese Arbeitserfahrung weder für die Pension noch als Berechtigung für Arbeitslosengeld. 

"Viele Studien zeigen, dass Länder mit einem Ausbildungssystem wie Dänemark, Deutschland und Österreich eine deutlich niedrigere Jugendarbeitslosigkeit haben", so Gladoic Hakansson. Als Career Councilor beobachtet er zudem seit Jahren das stagnierende Interesse an Vocational Training. Und das, obwohl es seiner Meinung nach ein sicherer Karriereweg sein könnte. Das hat auch systemische Gründe: Im schwedischen Schulsystem muss man zu Beginn der Oberstufe zwischen dem universitätsvorbereitenden und dem berufspraktischen Ausbildungszweig (Vocational Training) wählen.

Wer sich für ersteres entscheidet, kann die Praxisausbildung in dieser Intensität laut Gladoic Hakansson nur schwer nachholen: "Aufgrund des wirtschaftsliberalen Systems ist es möglich, sich trotzdem in dem Bereich selbstständig zu machen, aber wer würde jemanden anstellen, der keine praktische Ausbildung für seinen Beruf absolviert hat?" Zwar gibt es noch nach dem Schulabschluss die Möglichkeit ein Vocational-Training etwa bei einer Gemeinde zu absolvieren, allerdings sind diese in der Regel kürzer und weniger anerkannt. Gehalt erhält man auch hier für gewöhnlich keines, manche Programme sind sogar kostenpflichtig. Ein Verbesserungsvorschlag des Wirtschaftsprofessors wäre es, den Bildungsweg bis zum Schulabschluss für alle gleich zu machen. Dadurch würde man auch die Option für eine praktische Ausbildung offen halten.  "Ich halte es für ein Problem, mit 15 Jahren einen Beruf für den Rest seines Lebens wählen zu müssen."

Ein flexibleres Bildungssystem wünscht sich auch Katarina Nilsson. Sie ist Projektleiterin im Bereich Arbeit bei der unabhängigen Jugendorganisation Fryshuset. Bei der Arbeitssuche unterstützen sie sogenannte "NEET", junge Menschen, die sich weder in einer Ausbildung, einem Training oder einem Arbeitsverhältnis befinden. Wer die Schule abbricht, hat es laut ihr besonders schwer am Arbeitsmarkt: "Egal welcher Job ausgeschrieben ist, man braucht immer einen Schulabschluss". Das bestätigt auch Andreas Gäfvert vom schwedischen Arbeitsmarktservice. Denn rund 40 Prozent der Jugendarbeitslosen, die sich bei ihnen registrieren, haben einen recht kurzen Bildungsweg genossen. 

Lösungen in Sicht?

Für das schwedische Bildungssystem sind derzeit einige Reformen geplant. Darunter eine Überarbeitung des Vocational Trainings für das Erwachsenenalter. Derzeit noch ein Pilotprojekt, soll die Reform bis spätestens 2028 in Kraft treten und die berufspraktische Ausbildung attraktiver machen. Geplant ist, die Erwachsenenbildung auf Oberstufenniveau zu heben, mit gezieltem Training in Bereichen, in denen es derzeit Fachkräftemangel gibt. Zu diesen zählen laut Arbeitsmarktservice vor allem das Bauwesen, die Industrie und der Metallbau. Die Ausbildung soll allerdings weiterhin ein Bildungsprogramm bleiben und sieht keine Bezahlung vor.

Diese Maßnahme verspricht mehr Flexibilität in der beruflichen Laufbahn und könnte den Schüler:innen zumindest den Druck einer frühen Entscheidung für ihre berufliche Laufbahn nehmen. Auch das Benotungssystem in Schweden soll reformiert werden. Laut Björn Tyrefors, Wirtschaftsprofessor an der Universität Göteborg, habe insbesondere diese Maßnahme das Potential spürbare Verbesserungen hervorzubringen, da dadurch die Anzahl der Schulabbrecher:innen, die am Aufstieg in die Oberstufe scheitern, reduziert werden könne. 

Nicht adressiert bleibt jedoch die fehlende Transparenz im Recruitingprozess sowie die Anerkennung des Problems Jugendarbeitslosigkeit vonseiten der Politik. Das Vertrauen in Behörden sei laut Jugendarbeiterin Nilsson äußerst gering. Viele junge Schwed:innen würden sich deswegen auch gar nicht erst arbeitslos melden. Sie sehen das Arbeitsamt nicht als Anlaufstelle, die ihnen helfen könnte.

Der Arbeitsmarktservice vermutet hingegen ein Fernbleiben von jungen Arbeitssuchenden aufgrund individueller Barrieren: fehlendem Bewusstsein über das Serviceangebot, falscher Prioritätensetzung, ihrem sozioökonomischen Hintergrund, oder auch gesundheitlichen Problemen. Letzteres wird auch als Grund angeführt, weshalb die Unterstützung junger Menschen bei der Arbeitssuche manchmal nicht erfolgreich ist. Nilsson meint, hier würden Probleme unter den Teppich gekehrt werden und wünscht sich mehr offene Gespräche zu Jugendarbeitslosigkeit: "Es wäre so viel leichter Lösungen zu finden, wenn nur endlich alle anerkennen würden, dass es hier ein Problem gibt."

Ermöglicht wurde die Reise nach Schweden durch das Projekt "Eurotours" des Bundeskanzleramts. Die Kosten für Unterkunft und Anreise wurden übernommen. Im Blog des Projekts gibt es alle Berichte aus den EU- und Balkanländern zu lesen.

Zusammenfassung
  • Schweden gilt in vielen Bereichen als Vorreiter und rankt im internationalen Vergleich hoch in Sachen Wirtschaft, Gesundheit oder Wissenschaft
  • Ganz vorne mit dabei ist das Land allerdings auch bei der Jugendarbeitslosigkeit.
  • PULS 24 hat sich vor Ort auf die Suche nach Erklärungen und Lösungen begeben.