Evakuierungen und Kämpfe in der Ost-Ukraine

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Die Ukraine-Krise hat sich mit der geplanten Evakuierung von 700.000 Einwohnern der Separatistengebiete nach Russland erneut zugespitzt. In der Stadt Donezk ist am Freitagabend eine Autobombe explodiert.

Zudem befeuerten Berichte über Kämpfe zwischen den von Russland unterstützten Abtrünnigen im Osten des Landes mit der ukrainischen Armee am Freitag Befürchtungen, ein Angriff Russlands könne unmittelbar bevorstehen. So haben die Separatisten im Osten der Ukraine Kinder bei einem Waisenhaus versammelt, um mit ihnen die Evakuierungen nach Russland zu beginnen. Das berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax am Freitag.

Detonation in Donezk

Kurze Zeit später berichtete die Nachrichtenagentur TASS, bei einer Detonation in Donezk habe es sich nach Angaben der örtlichen Behörden um die Explosion eines Autos gehandelt. Der Agentur Interfax zufolge wurde niemand verletzt. Die Agentur RIA Nowosti hatte zuvor gemeldet, der Vorfall habe sich in der Nähe des Regierungsgebäudes der Separatisten ereignet.

Der russische Präsident Wladimir Putin ordnete laut Agentur Interfax an, in Russland Unterkünfte für Einwohner des ukrainischen Donbass zu bereitzustellen. Dafür solle Katastrophenschutzminister Alexander Tschuprijan unverzüglich in die Region von Rostow am Don reisen.

"Steuern auf Krieg zu"

Nach Angaben des Chef der Donezker Separatisten, Denis Puschilin, steuert die Situation im Donbass auf einen Krieg zu. "Leider ja", sagte Puschilin in einer Sendung des Fernsehsenders "Rossija 24" und beantwortete damit die Frage, ob die Lage im Donbass auf einen ausgewachsenen Krieg zusteuere. Das berichtete die Agentur RIA Nowosti am Freitag.

Die Separatisten warfen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor, er wolle "in nächster Zeit" eine Militäroffensive starten. Der Oberkommandierende der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, wies das dagegen in einer Videobotschaft erneut zurück. "Eine Angriffsoperation im Donbass führt unvermeidlich zu zahllosen Opfern in der Zivilbevölkerung, daher werden solche Szenarien nicht einmal in Betracht gezogen", betonte der 48-Jährige. Kiew woll den Konflikt friedlich lösen. "Glaubt den Lügen der Besatzer nicht", wandte der Militär sich an die Einwohner der Separatistengebiete.

Kampftruppen "stehen bereit" 

Puschilin sagte dagegen, dass die Kampftruppen bereit seien, das "Staatsgebiet" gegen einen Angriff der Ukraine zu verteidigen. Männer im Alter ab 18 Jahre durften nicht ausreisen. "Wir werden siegen", sagte er. In Videos aus Donezk waren Sirenen zu hören. Busse sollten die Menschen in Unterkünfte in das benachbarte Gebiet Rostow im Süden Russlands bringen. Die Menschen sollten nur die notwendigsten Dinge wie Dokumente, Geld, Wechselsachen und Medikamente mitnehmen.

Reaktionen aus dem Westen

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz verschärften westliche Regierungen angesichts dieser Entwicklung ihre Sanktionsdrohungen gegen Russland. Deutschlands Außenminister Annalena Baerbock sprach von "präzedenzlosen Sanktionen" im Falle eines Angriffs. Deutschland sei bereit, einen sehr hohen Preis zu zahlen. US-Außenminister Antony Blinken betonte die Entschlossenheit des Westens. US-Präsident Joe Biden will sich um 22.00 Uhr zur Ukraine-Krise äußern.

Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatten zuletzt eine massive Zunahme von Schusswechseln festgestellt. Die Verstöße gegen eine zwischen Separatisten und Regierungseinheiten vereinbarte Waffenruhe lösten international Beunruhigung aus. In dem seit 2014 andauernden Konflikt um die abtrünnigen Gebiete Luhansk und Donezk starben nach UN-Schätzungen bisher mehr als 14.000 Menschen, die meisten von ihnen in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten.

Ein Diplomat, der seit Jahren mit der Situation vertraut ist, sprach von den schwersten Gefechten seit 2015. An anderer Stelle hieß es, so weit seien die Konfrontationen nicht gegangen.

Spirale der Eskalation 

Die ukrainische Armee und die prorussische Rebellen warfen sich gegenseitig Verstöße gegen die geltende Waffenruhe vor. Die Rebellen kündigten überraschend an, Einwohner der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk nach Russland in Sicherheit zu bringen. Russlands Präsident Wladimir Putin ordnete ihre Unterbringung an. Baerbock warnte dagegen, dass man nicht Falschinformationen aufsitzen dürfe. Es gebe auch Berichte, dass sich Frauen und Kinder weigerten, in bereitgestellte Busse einzusteigen. In der Stadt Donezk explodierte ein Auto. Der Agentur Interfax zufolge wurde niemand verletzt.

Während russische Medien erneut einen Teilabzug von Soldaten und Panzern meldeten, wiesen die US-Regierung, aber auch Außenminister von Deutschland, Litauen und Lettland dies als nicht belegt zurück. Vielmehr sei davon auszugehen, dass immer mehr Soldaten an den Grenzen zur Ukraine zusammengezogen würden, sagte Blinken.

Baerbock sagte, dass ein begrenzter russischer Angriff unter einem Vorwand wahrscheinlicher als eine umfangreiche Invasion sei. Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics sagte im Reuters-Interview, dass Russland ein Täuschungsmanöver nutzen könne, um danach in die von Separatisten kontrollierten Gebiete einzumarschieren und diese als selbstständig anzuerkennen. Für zusätzliche Unruhe sorgte Russlands kurzfristige Ankündigung einer Übung seiner strategischen Atomstreitkräfte unter Beisein von Putin.

Videoschalte am Freitagabend

Der lettische Außenminister Rinkevics forderte, die Verhandlungen mit Moskau unbedingt fortzusetzen. Während laufender Gespräch sei es für Russland schwer, militärisch aktiv zu werden. US-Präsident Joe Biden lud angesichts der Entwicklung nach kanadischen Angaben die Spitzen der Nato, der EU sowie die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Italien, Polen, Rumänien, Großbritannien, Frankreich und Kanada zu einer Videoschaltung im Laufe des Freitagabends ein.

Moskau fordert Sicherheitsgarantien

Russland wies erneut Vorwürfe zurück, es plane eine Invasion. Den Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen begründet die Regierung in Moskau mit der Forderung nach Sicherheitsgarantien. Sie will unter anderem eine Zusage, dass die Nato ihre Präsenz in Osteuropa abspeckt und die Ukraine nicht in das Bündnis aufgenommen wird. Die Nato lehnt dies ab. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis forderte im Gegenteil, dass die Nato ihre militärische Präsenz im Baltikum erhöhen müsse.

Ukraine um Beruhigung bemüht

Gleichwohl erklärte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksiy Resnikow, die Wahrscheinlichkeit einer großangelegten Eskalation sei niedrig. Die ukrainischen Geheimdienste sähen "jede Bewegung, die eine potenzielle Bedrohung für die Ukraine darstellten könnte". Der amerikanische OSZE-Botschafter Michael Carpenter sagte, die USA schätzten, Russland habe in und nahe der Ukraine wahrscheinlich zwischen 169.000 und 190.000 Militärangehörige im Einsatz. Ende Jänner seien es noch 100.000 gewesen. "Das ist die bedeutendste Militärmobilisierung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs."

Neue Manöver am Samstag

Putin hatte zuvor ein Manöver mit Einsatz ballistischer Raketen angekündigt. Die Übung am Samstag stehe unter Führung des Präsidenten, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitag mit. Ziel sei es, die Zuverlässigkeit der strategischen Nuklearwaffen zu testen. Die Armee will demnach ballistische Raketen und Marschflugkörper abfeuern. Unterdessen gingen die heftigen Kämpfe in der Ostukraine weiter. Ob Kremlchef Putin als Oberbefehlshaber zu der Übung reist oder sich per Video zuschaltet, war zunächst unklar. Das Manöver sei im Voraus geplant gewesen, teilte das Ministerium weiter mit. Russland testet mehrfach im Jahr Raketen. Das Land und die USA sind die beiden mit Abstand größten Atommächte der Welt.

Lukaschenko beriet am Freitag mit Putin darüber, wie lange die russischen Truppen nach dem für den 20. Februar geplanten Abschluss des gemeinsamen Manövers in Belarus (Weißrussland) bleiben. Der weißrussische Präsident ließ am Donnerstag den Abzugstermin offen. "Wenn wir eine Entscheidung treffen, werden wir (die Truppe) innerhalb von 24 Stunden abziehen. Wenn wir uns für einen Monat entscheiden, bleiben sie einen Monat. Die Streitkräfte bleiben so lange wie nötig", sagt er der Nachrichtenagentur Belta zufolge.

"Sehr besorgniserregend"

Macron sprach am Rande des EU-Afrika-Gipfels am Freitag von einer "sehr besorgniserregenden" Situation in der Ostukraine. Es gebe Berichte über mehrere Opfer. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz bezeichnete die Lage neuerlich als "sehr ernst" und verwies darauf, dass Russland mit "militärisch-technischen Maßnahmen" gedroht habe. Dies sei "jedenfalls eine Umschreibung für etwas, das ja nichts anderes ist als eine militärische Aggression. Und deshalb sollten wir es auch nicht so harmlos klingen lassen". Waffenlieferungen an die Ukraine schloss Scholz neuerlich aus. "Das wäre jetzt genau der falsche Zeitpunkt", so Scholz. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sprach in Brüssel von einer "Verwirrtaktik" der russischen Streitkräfte, die "Druck aufbauen an der Grenze und wieder zurücknehmen".

Der Russland-Experte Gerhard Mangott betonte jedoch, dass ein Einmarsch Russlands im Donbass strategisch wenig sinnvoll wäre. "So beunruhigend die Lage im Donbass auch ist, ein russischer militärischer Vorstoß in diesem Gebiet würde zum Ende der Gespräche mit dem Westen führen, Sanktionen würden folgen und Russland wäre seinem Ziel, die Ukraine rechtsverbindlich außerhalb der NATO zu halten, keinen Schritt näher", betonte der Innsbrucker Politologe auf Twitter.

Ukraine um Beruhigung bemüht 

Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow war indes um Beruhigung bemüht. Er schätze die Wahrscheinlichkeit einer "großangelegten Eskalation" vonseiten Russlands gegenüber der Ukraine als niedrig ein. Das sagt er im Parlament unter Verweis darauf, dass die ukrainischen Geheimdienste "jede Bewegung sehen, die eine potenzielle Bedrohung für die Ukraine darstellten könnte". Russland habe etwa 149.000 Soldaten rund um die Ukraine zusammengezogen und Tausende weitere würden in Kürze erwartet, fügt er hinzu.

Russische Manöver in der Nähe der Ukraine stoßen derzeit im Westen auf Kritik. Das Verteidigungsministerium hatte zuletzt angekündigt, dass seine Truppen nach Ende von Übungen wieder zu ihren Standorten zurückkehren sollten. Einige Soldaten sowie militärisches Gerät seien bereits abgezogen worden. Das wurde im Westen angezweifelt. Russland verlangt zudem vom Westen Sicherheitsgarantien für sich.

OSZE-Sondersitzung in Wien

Die Lage im Ukraine-Russland-Konflikt war am Freitag auch Thema einer Sondersitzung des Ständigen Rates der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien. US-OSZE-Botschafter Michael Carpenter sagte, dass die Ukraine derzeit von 169.000 bis 190.000 Soldaten bedroht werde. "Dies ist die bedeutendste militärische Mobilmachung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte er.

ribbon Zusammenfassung
  • In der Ostukraine hat sich die militärische Lage am heutigen Freitag weiter verschlechtert.
  • Nachdem Diplomaten von den heftigsten Kämpfen seit dem Jahr 2015 berichteten, forderte die pro-russische Führung des Separatistengebiete die Zivilbevölkerung zur Flucht nach Russland auf.
  • Der russische Präsident Wladimir Putin sprach von einer "Verschlechterung der Lage", sein französische Amtskollege Emmanuel Macron nannte sie "sehr besorgniserregend".
  • Zuerst sollten "Frauen, Kinder und ältere Leute" in Sicherheit gebracht werden, sagte der Chef der Donezker Separatisten, Denis Puschilin, in einer am Freitag veröffentlichten Ansprache.
  • Laut Puschilin steuert die Situation im Donbass auf einen Krieg zu.