Angehörige im Interview

Amoklauf in Graz: Die Opfer "sollen eine Stimme bekommen"

Heute, 18:04 · Lesedauer 6 min

Vor vier Wochen starben beim Amoklauf am BORG Dreierschützengasse neun Schüler:innen und eine Lehrerin. Mehrere Angehörige haben sich an PULS 24 gewandt: Sie wollen, dass ihre Liebsten nicht vergessen werden und erzählen, welche Lücken die Tode in ihren Leben hinterlassen.

"Ich rede eigentlich nie in der Vergangenheit über sie", sagt die Schwester von Anna Bella. "Sie wird immer meine Schwester sein."

Im Alter von nur 15 Jahren ist die junge Frau aus Eggersdorf bei Graz bei dem Amoklauf in ihrer Schule, dem BORG Dreierschützengasse, gestorben. 

Sie habe das noch nicht ganz realisiert, sagt Aliya Bernhart. Ihre Schwester sei jetzt weg, aber sie habe noch die Hoffnung, dass sie wieder nach Hause kommt, dass sie eines Morgens wieder im Badezimmer steht. "Nur weil sie jetzt nicht da ist, heißt das nicht, dass wir uns nicht irgendwann wieder sehen."

PULS 24 lässt die Angehörigen von Anna Bella, Hanna, Kaid und Lea zu Wort kommen, um die Geschichten ihrer Liebsten zu erzählen. Sie haben sich an PULS 24 gewandt, weil sie wollen, dass sie nicht vergessen werden. Um zu zeigen, welche Lücken der Amoklauf in ihre Familien riss. 

Es sind Geschichten über geliebte Personen, die ihre Pläne, ihre Träume wegen einer sinnlosen Tat nicht mehr verwirklichen können. Es sind Geschichten, die dafür sorgen sollen, dass mehr für die Verhinderung solcher Taten unternommen wird.

Anna Bella, "einfach ein Schatz"

Die drei Jahre ältere Schwester Aliya besuchte einst dieselbe Schule wie Anna Bella. Das BORG sei ein Ort gewesen, an dem man so akzeptiert werde, wie man ist. 

Auch Anna Bella habe dort gute Freunde gefunden. Bis zum Schluss sei sie nicht alleine gewesen, bei einem Menschen, den sie sehr gerne hatte. Das sei ein schöner Gedanke, sagt ihre Schwester Aliya. Sie habe in der Stunde davor ein Referat gehalten und sei dafür gelobt worden, freuen sich auch die Eltern Stefan und Natascha.

Anna BellaPULS 24 / zVg

Anna Bella

Wenn die Familie über Anna Bella spricht, wird gelacht und gestrahlt. "Nur Liebe und Dankbarkeit", andere Gedanken wolle sie nicht zulassen, sagt Mutter Natascha. 

Die Familie beschreibt Anna Bella als offen und verspielt. Sie habe immer geschaut, dass es anderen gut gehe. Sie habe ein Praktikum als Goldschmiedin absolviert, weil sie da Schmuck herstellen könne, mit dem andere etwas verbinden. 

Anna Bella sei feinfühlig gewesen. "Einfach ein Schatz", so die Mutter. "Sie bringt einfach Freude", so die Mutter. 

Auch der Vater bezeichnet das Geschehene als "surreal", denn "wir leben noch nicht in einer Realität, wo Schulen kein sicherer Ort sind". Er erinnert sich, wie er Tochter Anna Bella, auch am 10. Juni am Weg in seine Arbeit bis zum Grazer Hauptbahnhof mitgenommen habe.

Oft habe man im Auto gemeinsam die Lieblings-K-Pop-Songs der Tochter gehört. "Der Weg in die Arbeit wird jetzt anders", so der Vater. Die Playlists werde er aber weiter hören. Mit seiner Tochter habe er auch die Liebe für Computer- und Brettspiele geteilt. Anna Bella habe immer gewonnen, beschwert sich die Mutter noch heute mit einem Grinsen im Gesicht.

Er sei froh, dass seine Tochter trotz des jungen Alters einiges erlebt hat, sagt Stefan. Dennoch gab es Pläne, die Anna Bella nicht mehr verwirklichen konnte. Nun wäre der Mopedschein angestanden. Ihre Schwester wollte sie zu ihrem 16. Geburtstag unbedingt mit in einen Club nehmen. "Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Leben geworden", sagt Aylin, "wie kein anderer für mich war oder ist". 

Lea, die "aller allerbeste Freundin" 

Seit dem 10. Juni "ist es bei uns anders", sagt auch die Mutter von Lea. Leer und kalt sei es nun. 

Auch ihre Tochter wurde nur 15 Jahre alt. Eigentlich würden ihr die Worte fehlen, um das zu beschreiben, was sie durchlebe, so die Mutter. "Sie fehlt." 

LeaPULS 24 / zVg

Lea

Die Mutter beschreibt ihre Tochter als besonders, lieb, lustig und ehrgeizig. Man hätte vor Schularbeiten kaum mit ihr reden können. Sie kam von der Schule, aß schnell und habe dann gesagt: "Mama, wenn du etwas fragen willst, hast du 10 Minuten. Dann muss ich lernen."

Lea sei aber auch gerne "mit den Mädels raus". Dabei habe sie immer Wert auf ihr Styling gelegt. Ein Tipp "von unserem Stylingmädchen", den ihre Mutter weitergeben möchte: Die Haare eiskalt waschen – dann sollen sie voluminöser werden. Außerdem habe ihre Tochter selbstgemachtes Shampoo mit Thymian und Olivenöl verwendet.

Video: Mutter trauert um Tochter Lea

Lea sei immer hilfsbereit gewesen. Man habe mit ihr "über alles reden" können. "Sie war meine aller allerbeste Freundin", sagt ihre Mutter.

"Sie ist jetzt oben, ich bin unten, aber wir sind immer beisammen", sagt sie. "Ich liebe mein Kind bis an mein Lebensende."

Hanna, die "Kuschelmaus"

Hanna war ebenfalls erst 15, als sie vor rund vier Wochen ums Leben kam. Die Erinnerungen an sie konnten ihrer Mutter nicht genommen werden: Sie zeigt Videos, die Hanna beim gemeinsamen Geschenkeauspacken mit ihrem Bruder und unterm Konfetti-Regen beim Kindergeburtstag zeigen.

HannaPULS 24 / zVg

Hanna

Über ihre Tochter lässt sie PULS 24 einen Text zukommen: "Ich vermisse sie sehr", heißt es darin. Sie schlafe jeden Tag mit einem Kleid ihrer Tochter in den Armen und höre ihre Stimme. "Sie ist in jeder Ecke meines Hauses." Ihre Tochter sei ihr "Klon", ihr "Mini-Me" gewesen. 

Auch Hanna hatte noch große Pläne: Sie wollte Medizin oder Kriminalistik studieren. Sie sei "sehr international" gewesen und habe viele Freunde gehabt.

Video: Mutter erinnert an "Kuschelmaus" Hanna

Als abenteuerlich, gläubig, eine gute Ratgeberin, bescheiden und lebensfroh beschreibt sie ihre Mutter.

Eine "Kuschelmaus" sei sie gewesen. 

Kaid, der das Leben liebte

Kaid wäre im August 18 Jahre alt geworden. Er hätte kommendes Jahr Matura gemacht, wollte dann zum Bundesheer und in die Schweiz, um dort Architektur zu studieren.

Seine Mutter wollte mit ihm dorthin auswandern, doch Kaid habe gesagt: "Mama, lass mich meine Flügel selbst ausbreiten." Er habe "genau gewusst, wie er sein Leben gestalten will".

KaidPULS 24 / zVg

Kaid

"Er hat das Leben geliebt und genossen", schreibt seine Mutter über ihn in einer Nachricht an PULS 24. Er sei gerne mit seinen Freunden unterwegs gewesen. Auch er habe stets auf sein Aussehen geachtet und immer gut gerochen, erinnert sich seine Mutter.

Video: Kaid "wusste, wie er sein Leben gestalten will"

"Er fehlt uns so sehr. Es tut weh", schreibt sie. Sie würde oft beten, "dass Gott eine Ausnahme machen soll, damit die unschuldigen Kinder und die Lehrerin zukehren können". Sie habe aber versprochen, stark zu bleiben. Nun wolle sie ihre "Stimme für alle Opfer erheben". 

"Sie waren aber nicht nur Opfer, sie waren Menschen mit Namen. Sie sollen eine Stimme bekommen und die Öffentlichkeit soll über sie erfahren", so die Mutter von Kaid. 

Zusammenfassung
  • Vor vier Wochen starben beim Amoklauf am BORG Dreierschützengasse neun Schüler:innen und eine Lehrerin.
  • PULS 24 lässt die Angehörigen von Anna Bella, Hanna, Kaid und Lea die Geschichten ihrer Liebsten erzählen.
  • Sie haben sich an PULS 24 gewandt, weil sie wollen, dass sie nicht vergessen werden. Um zu zeigen, welche Lücken der Amoklauf in ihre Familien riss.