Besuch bei der Kinder- und Jugendhilfe
"Man sieht den Kindern ihre innerliche Wut an"
Der Fernseher läuft, ein Kleinkind im rosa Kleidchen sitzt auf der Couch. Als die Tür aufgeht, beginnt es zu strahlen. Sie schreit euphorisch: "Hallo, Kerstin!". Sie winkt der Leiterin des Krisenzentrums, Kerstin Purkhauser, entgegen.
Im Krisenzentrum in der Donaustadt, wo Kinder im Alter von 3 bis 15 Jahren unterkommen, ist um 9.00 Uhr nur das Mädchen im Haus. Die restlichen Kinder und Jugendlichen sind in der Schule.
Im Nebenzimmer hört man eine Sozialpädagogin telefonieren: "Du hast eine Anzeige bekommen?", wirkt die Stimme erschrocken. "Ein normaler Tag", sagt Purkhauser zu PULS 24.
Purkhauser, Ingrid Pöschmann, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der MA 11, und Daniel Ebmer, Leiter einer Wohngemeinschaft (WG) Am Tabor, nehmen PULS 24 einen Tag lang bei ihrer Arbeit mit.
365 Tage, 24 Stunden, immer
Dass im Krisenzentrum am Vormittag so wenig los ist, ist nicht immer so. Denn das Krisenzentrum ist die erste Anlaufstelle, wenn es bei Kindern ein Gefährdungspotenzial gibt. "Vernachlässigung, körperliche, sexuelle und psychische Gewalt", zählt Purkhauser etwa auf.
Die Kinder kommen tagesaktuell ins Krisenzentrum. "Wir bekommen einen Anruf, wir führen ein Aufnahmegespräch, verschaffen uns einen Überblick und danach sind sie bei uns", so Purkhauser. Die Kinder werden den ganzen Tag über begleitet, werden teils von Kindergarten und Schule abgeholt und hingebracht.
Einmal pro Woche finden dann Krisengespräche mit den Eltern, der sozialen Arbeit und mit den Pädagog:innen statt. Am Wochenende können die Kinder zu den Eltern. Meist sind die Kinder sechs bis acht Wochen in den Krisenzentren.
"Wir sind 365 Tage im Jahr 24 Stunden immer da", fast Purkhauser die Arbeit zusammen. Sie betreuen die Kinder auf ihrem Weg zurück zu ihren Familien. Einfach ist das aber nicht immer.
Jedes Kind bringt eine andere Geschichte mit und hat andere Ansprüche. "Wir müssen kreativ sein", sagt die Sozialpädagogin.
Ingrid Pöschmann, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der MA 11, und Kerstin Purkhauser, Leiterin des Krisenzentrums in der Donaustadt.
Zugang nur zu jenen, die nicht "abposchen"
Warum aber gibt es dann Berichte über Kinder und Jugendliche, die außerhalb der Einrichtung straffällig werden?
Die MA 11 kann Türen in ihren Einrichtungen laut Heimaufenthaltsgesetz nicht einfach zusperren, respektive die Kinder nicht anhalten. Sind Kinder bzw. Jugendliche also nicht im Haus, greift auch das Angebot nicht - und es entsteht keine Beziehung.
"Wenn die weglaufen, dann kriegen wir keinen Zugang", erklärt Purkhauser kurz. Das sei dann Polizeisache. Wenn die Kinder aber im Haus sind dann: "Kommen wir an sie heran", gibt sie sich überzeugt.
Es komme kaum vor, dass man zu den Kindern, die im Haus betreut werden, keinen Zugang findet. "Wir schaffen das immer", betont sie.
Ziel der MA 11 ist es, dass die Kinder und Jugendlichen zurück zu ihren Eltern können. Sollten Krisengespräche aber ergeben, dass das nicht möglich ist und die Gefährdung nach wie vor zu hoch ist, übersiedeln sie in eine Wohngemeinschaft (WG). Die MA 11 übernimmt dann die gesamte Obsorge oder die Pflege- und Erziehung.
"Ja, wir brauchen manchmal die Polizei"
Viele von ihnen kommen dann bei Daniel Ebmer unter. PULS 24 trifft ihn in einer WG Am Tabor. Sie ist eine der neuesten Einrichtungen und wirkt fast wie eine Neubau-Wohnung. Hell, freundlich, geschmückt mit Zeichnungen, Bastelstücken und Stofftieren.
Zu Mittag ist auch hier nur ein Bursche "zu Hause", die restlichen sieben Kinder- und Jugendlichen sind in der Schule.
Ebmer leitet auch andere Wohngemeinschaften. Darunter einige, die rein für jugendliche Burschen und welche, die nur für jugendliche Mädchen gedacht sind. In erster kommen viele unter, die zuletzt medial aufgefallen sind und von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) gerne "Systemsprenger" genannt werden.
"Die sind einzeln super und man kann auf die Beziehungsebene gehen. Wenn sich Jugendliche zusammentun, ist es schwierig", sagt Ebmer über die Jugendlichen.
Punktuell wird da auch die Polizei oder der Notruf gebraucht. Und was passiert dann? "Ganz oft wirkt die Uniform schon deeskalierend", so Ebmer. Nächster Schritt wäre etwa eine Nacht bei den Eltern oder in äußersten Notfällen die Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Manchmal tauchen die Kinder und Jugendlichen auch mit ihren Familien in andere Länder ab. "Die müssen dann aber auch wieder zurück. Vielleicht nicht in dasselbe System". Sollten Eltern forcieren, dass Kinder und Jugendliche immer wieder weglaufen, kann das gar in einer Anzeige enden, sagt er.
Ingrid Pöschmann, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der MA 11, und Daniel Ebmer, langjähriger Sozialpädagoge und Leiter der WG Am Tabor.
"Weil wir in Sorge sind"
Sollte ein Kind weglaufen, werde immer eine Abgängigkeitsanzeige bei der Polizei gemacht. "Weil wir in Sorge sind", so Ebmer. Ein Mantra der Kinder- und Jugendhilfe. "Auch, wenn das Kind oder der Jugendliche dann zurückkommt, muss man ihnen das Gefühl geben, dass man sie gerne hat und für sie sorgt", erklärt Ebmer.
Immer wieder zischt der Bursch vorbei, der zu Mittag in der WG ist. Er holt sich Obst, das schön drapiert im Wohnzimmer aufgetischt ist.
Es kann durchaus auch schon einmal vorgekommen, dass man Kinder oder Jugendliche dann selbst von der Polizei oder aber auch vom Spital abholen muss. "Das sind dann die schwierigeren Geschichten", gibt er zu.
Irgendwann "brechen sie aus"
Belastend kann das schon sein, gibt Purkhauser zu. Das sei vor allem bei Kindern der Fall, die eine "komplexe Geschichte" haben. Meistens sind das auch jene, die medial Aufmerksamkeit bekommen.
"Bei den Kindern ist ganz viel passiert und die reagieren verständlicherweise mit ihrem Verhalten", so Purkhauser. Sie seien manchmal jahrelangem Missbrauch oder Gewalt ausgesetzt und dann "brechen sie aus". "Den Kindern sieht man ihre innerliche Wut an", sagt sie.
Für Ebmer kann die Zusammenarbeit mit den Eltern aber auch "ziemlich herausfordernd" sein. Müssen Kinder in eine WG, sei das "immer ein Zwangskontext". "Die geben die Kinder nicht gerne ab", sagt er. Oftmals scheitert es aber schon bei der Problemeinsicht der Eltern. Da komme dann bereits Frust auf.
Die Sozialpädagog:innen der MA 11 bekommen, sollten sie es brauchen, dann auch entsprechende Betreuung. Für viele kann die Arbeit teils zermürbend sein.
"Oba I mog eam so gern"
Meist verbuchen die Sozialpädagog:innen aber Erfolge. "Ich muss sagen, wenn wir schwierige Kinder- und Jugendliche haben, dann mag ich sie noch viel mehr", scherzt Purkhauser.
Erst am Vortag sei man im Krisenzentrum mit einem "schwierigerem" Kind konfrontiert gewesen. Eine Kollegin von Purkhauser habe dann zu ihr gesagt: "Oba I mog eam so gern". Ein Tool ihrer Arbeit.
Man dürfe nicht müde werden, das zu betonen. "Dann krieg' ich die Beziehung schon." Man müsse um die Kinder kämpfen.
Im Krisenzentrum in der Donaustadt tut man das schon seit vielen Jahren. Immer mehr Kolleg:innen von Purkhauser trudeln während des Gesprächs mit PULS 24 ein. Schon bald folgen auch die Kinder und Jugendlichen und dann beginnt das Nachmittagsprogramm.
Sei es Hausaufgaben erledigen oder eben über die Anzeige aufklären, die eine Sozialpädagogin am Vormittag erschreckt hatte.
Zahlen zur MA 11
Die MA 11 hat ungehindert der Arbeit der Sozialpädagog:innen seit Jahren schon mit Personalmangel und Überbelastung zu kämpfen. Von 2020 bis 2025 hat man etwa im Bereich der Wohnplätze (wie WGs) eine Steigerung der zu betreuenden Minderjährigen von 11 Prozent verzeichnet. In Krisenzentren eine Steigerung von knapp 35 Prozent.
Derzeit sind 127 Wohnplätze in der Fertigstellung. Das Gesamtbudget für die MA 11 wurde von 2020 bis 2024 auf gut 46 Prozent gesteigert. Im neuen Arbeitsprogramm der türkis-rot-pinken Bundesregierung will man der Kinder- und Jugendhilfe ebenso mehr Mittel zur Verfügung stellen.
Den Ausbau muss die MA 11 auch vor den Hintergrund des Personalmangels und des begrenzten Platzes denken. Aktuell fokussiert man sich daher aufs Employer Branding und Stellenausschreibung. 107 neue Stellen wurden geschaffen.
Zusammenfassung
- Es sind Geschichten über Polizeieinsätze, Straftaten und Gewalt, die medial über jene Kinder, die bei der MA 11 unterkommen, hinausgetragen werden.
- Dahinter steckt viel mehr.
- Ein Blick hinter die Kulissen in einem Krisenzentrum und einer Wohngemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe.