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UNO-Kritik an Israel: Wie weit darf Selbstverteidigung gehen?

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Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober schlägt die israelische Armee zurück. Damit nimmt Israel sein Recht auf Selbstverteidigung nach dem humanitären Völkerrecht wahr. Wegen der humanitären Krise im Gazastreifen wächst jedoch der internationale Druck auf Israel. Und zunehmend stellen viele die Frage: Wie weit darf Selbstverteidigung gehen?

Am 7. Oktober griff die Terrororganisation Hamas Israel an. In mehreren Ortschaften, sowie auf dem Musikfestival "Supernova" wurden wahllos Gräueltaten verübt, vor allem an Zivilist:innen.

1.200 Menschen in Israel getötet

Nach israelischen Angaben wurden dabei 1.200 Menschen getötet, etwa 240 weitere wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Israel erklärte der Hamas daraufhin den Krieg und nahm den Gazastreifen unter Dauerbeschuss. Dabei wurden nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, bisher über 15.000 Menschen getötet, unter ihnen Tausende Kinder.

NGOs: "Töten von Zivilisten in Gaza eine Schandtat"

Wegen der israelischen Angriffe hat sich die humanitäre Lage im Gazastreifen dramatisch verschärft. Angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer und der kritischen Versorgungslage forderten sowohl die EU als auch mehrere UNO-Organisationen eine sofortige Feuerpause.

In der Erklärung der UNO-Organisationen wurde der Hamas-Terrorangriff als "grauenvoll" kritisiert. "Aber die schreckliche Tötung von noch mehr Zivilisten in Gaza ist eine Schandtat, wie auch das Kappen von Essen, Wasser, Arzneimitteln, Strom und Treibstoff für 2,2 Millionen Palästinenser." Einer ganzen Bevölkerung werde "Zugang zu den nötigsten Dingen für das Überleben verweigert". Sie würden "in ihren Häusern, Notunterkünften, Krankenhäusern und Gotteshäusern bombardiert", schrieben die Organisationen.

Ein "unmoralisches Blutbad"

Nach längerem Ablehnen einer Feuerpause, einigten sich Israel und die Hamas schließlich auf eine mehrtägige Waffenruhe, bei der israelische Geiseln und palästinensische Gefangene ausgetauscht und humanitäre Hilfsgüter in den Gazastreifen gebracht wurden. Am Sonntag setzte die israelische Armee ihr Bombardement von Zielen im Gazastreifen jedoch fort – der Pressesprecher des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF, James Elder, kritisierte die Angriffe scharf.

Dort finde ein "Blutbad" statt, das "unmoralisch" sei und das mit "mit Sicherheit als illegal verstanden werden wird", sagte Elder dem Nachrichtensender Al-Jazeera. Wer das hinnehme, mache sich selbst schuldig. "Schweigen ist Mittäterschaft", sagte Elder. Auch das deutsche Außenministerium hat das Ende der Feuerpause zwischen Israel und der Hamas als herben Rückschlag bezeichnet.

Wegen ihres Vorgehens wächst zunehmend der internationale Druck auf Israel. Und es stellt sich die Frage: Handelt Israel angemessen?

Völkerrecht: Mittel sind nicht unbegrenzt

Alle Parteien eines bewaffneten Konflikts unterliegen den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. Dadurch soll das Leid, dass ein Krieg verursacht, so gut wie möglich minimiert werden. 

Das humanitäre Völkerrecht besagt, dass alle Konfliktpartner zwischen Militär und militärischen Einrichtungen und der Zivilbevölkerung und zivilen Objekten unterscheiden müssen. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss gewährleistet werden - diese darf nicht direkt angegriffen werden, außer die Angriffe sind auf militärische Ziele gerichtet. Dies führt aber zu einem sogenannten "Kollateralschaden". Dieser muss "im Verhältnis zum militärischen Vorteil stehen" und muss "so klein wie möglich gehalten werden", so Amnesty International.

"Die Mittel, dem Feind zu schaden, sind nicht unbegrenzt", betont die Menschenrechtsorganisation.

Hamas nützt eigene Bevölkerung als "Schutzschild"

Das bedeutet, dass sowohl Israel als auch die Hamas rechtlich an das Völkerrecht gebunden sind. Die Hamas, die von den USA, der EU und Israel als Terror-Gruppe eingestuft wird, verstößt jedoch seit dem 7. Oktober (und auch bereits zuvor) gegen zahlreiche Punkte des humanitären Völkerrechts. 

Das von der Hamas in Israel verübte Massaker gilt als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem internationalen Strafgerichtshof.

Die Hamas verstößt gegen das Verbot unterschiedsloser Kriegsführung, indem sie Raketen auf israelische Städte, und somit zivile Ziele, feuert. Außerdem missbraucht die Hamas zivile Einrichtungen für militärische Zwecke und verwendet ihre eigene Bevölkerung als "menschliche Schutzschilde". Das macht es für Angreifer, in dem Fall Israel, umso schwerer, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden. Israel wirft der Hamas vor, unter Krankenhäusern ihre "Kommandozentralen" versteckt zu haben. Die Hamas weist dies zurück.

Tatsache ist jedoch, dass die Hamas bereits mehrmals versucht hat, die palästinensische Zivilbevölkerung von einer Evakuierung abzuhalten - auch damit hat die Terrororganisation gegen seine Pflicht zum Schutz von Zivilpersonen verstoßen.

Israel muss "Tod von Zivilisten in Kauf nehmen"

Nach dem Angriff der Hamas Anfang Oktober, hat Israel nach Artikel 51 der UN-Charta nun das Recht auf Selbstverteidigung. Doch auch Israel muss sich an das humanitäre Völkerrecht halten - auch im Zuge dieser Selbstverteidigung.

Israel gehe mit den Bombardements "sicherlich an Grenzen", meint dazu der deutsche Völkerrechtler Christian Tomuschat gegenüber dem "Standard".

Für Israels Militär sei es jedoch schwierig, einen Krieg gegen eine Terrororganisation, "unter diesen Umständen" und "nach den Normen des Völkerrechts zu führen", so Tomuschat. Die verpflichtende Anstrengung Zivilisten und Kombattanten zu trennen, sei in diesem Konflikt "kaum" zu verwirklichen, meint der Völkerrechtler – schließlich handle es sich nicht um zwei Staaten, deren Armeen "weitab der Wohnregionen" gegeneinander kämpfen.

Wolle Israel die Hamas vernichten, müsse es "fast zwangsläufig den Tod von Zivilisten in Kauf nehmen".

Luftanschläge sind "kollektive Bestrafung"

Matthias Schmale, ehemaliger Leiter der UN-Palästinenserhilfe UNRWA in Gaza, sieht das etwas anders.

Natürlich sei es so, dass im Krieg Menschen sterben. Aber "auch Kriege haben Regeln", betont er. "Mein Eindruck ist, dass diese Regeln nicht immer so respektiert werden, wie man das erwarten muss von einem demokratischen Staat wie Israel", so der ehemalige UNRWA-Leiter.

Während Schmale 2021 die israelischen Luftanschläge noch als "präzise" bezeichnete, würde er das über die derzeitige Situation nicht sagen. Das "Ausmaß der Zerstörung, die Zahl der Toten, der toten Kinder" würden für ihn nach "kollektiver Bestrafung" aussehen, meint er gegenüber dem "Standard".

Seinen Vorwurf gegenüber der israelischen Armee stützt er vor allem auf der Zahl der Toten im Gazastreifen. Außerdem: "Ist es nicht kollektive Bestrafung, wenn man eine gesamte Bevölkerung von der Außenwelt abriegelt und ihr Nahrung und Trinkwasser vorenthält?", betont der ehemalige UNRWA-Leiter.

"Schwer, das Völkerrecht einzuhalten"

Der Nahost-Krieg basiere darauf, dass die Hamas das Kriegsrecht systematisch verletzt, meint Völker- und Menschenrechtsexperte Ralph Janik. Die Tatsache, dass die Hamas das Unterscheidungsprinzip nicht einhaltet - also "zivile Gebäude zweckentfremdet" oder Kämpfer nicht klar erkennbar sind - mache es für Israel wiederum schwer, das Völkerrecht einzuhalten.

Generell sei der Kampf gegen "irreguläre Kämpfer" wie der Hamas "enorm schwer". Bei manchen der Angriffe, "den großflächigen Zerstörungen" im Gazastreifen müsse man sich jedoch wirklich fragen: Sind sie militärisch gerechtfertigt?

Denn was auf jeden Fall gemäß Kriegsrecht zu wahren ist, ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Der militärische Vorteil, der durch einen Angriff zu erwarten ist, muss mit den erwarteten zivilen Kosten abgewogen werden. Diese Kalkulation sei "enorm schwierig", so Janik. Denn: "Wie viel ist ein hochrangiger Hamas-Kommandant 'wert'"? Welche Entscheidung man hier schlussendlich treffe, hänge auch von der ethischen Denkweise ab.

In vielen Fällen sei es aber "höchst hinterfragenswert", ob Israel diese Kalkulation "so vorgenommen hat, wie man das von einem verantwortungsbewussten Kommandanten verlangen kann".

Völkerrechtsexperte: Hamas im Rahmen eines sauberen Kriegs nicht zerschlagbar

Hamas-Zerschlagung "nicht möglich"

Es sei relativ leicht zu sagen, was völkerrechtswidrig ist. Es sei jedoch um einiges schwieriger zu sagen, was tatsächlich völkerrechtskonform wäre, betont Janik im PULS 24 Interview. Er warnt jedoch: Die Verletzung des Völkerrechts der einen Partei rechtfertigt nicht, dass auch die andere Partei dieses bricht. Das bedeutet, auch wenn die Hamas gegen das Völkerrecht verstößt, heiße dies nicht, dass Israel es auch verletzten dürfe.

Laut Janik sei eine Hamas-Zerschlagung "gar nicht möglich". "Zumindest nicht im Rahmen eines halbwegs sauberen Kriegs", so der Völkerrechtsexperte.

Kriegsverbrechen: Internationale Vorwürfe

Das Recht Israels auf Selbstverteidigung ist unumstößlich. Einige Expert:innen betonen, dass der Kampf gegen eine Terrororganisation schwer sei und die israelische Armee zwangsläufig eine hohe Zahl ziviler Opfer hinnehmen müsste, wenn sie die Hamas tatsächlich zerschlagen wolle. Andere wiederum erkennen darin eine wahllose Kriegsführung, die unnötig viele Opfer bringt. Sie betonen: Auch ein Krieg hat Regeln.

Fakt ist jedoch: Sowohl Israel als auch die Hamas unterliegen dem humanitären Völkerrecht. Bricht eine der Parteien dieses, bedeutet das nicht, dass auch die andere Partei das Völkerrecht verletzten darf. Auch im Rahmen der Selbstverteidigung ist Israel daher verpflichtet, das Völkerrecht einzuhalten. Alle Anstrengungen müssen unternommen werden, um die Zivilbevölkerung möglichst zu schützen und zu schonen.

Brechen die Kriegsparteien das Völkerrecht, wird dieser Bruch national, und wenn notwendig auch international, juristisch geahndet, etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in den Haag. Derzeit werden sowohl Israel als auch der Hamas solche Kriegsverbrechen vorgeworfen. Ein Ende des Krieges im nahen Osten ist unterdessen nicht absehbar.

ribbon Zusammenfassung
  • Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober schlägt die israelische Armee zurück.
  • Damit nimmt Israel sein Recht auf Selbstverteidigung nach dem humanitären Völkerrecht wahr.
  • Wegen der humanitären Krise im Gazastreifen wächst jedoch der internationale Druck auf Israel.
  • Und zunehmend stellen viele die Frage: Wie weit darf Selbstverteidigung gehen?