Rede in Bregenz
Van der Bellen plädiert für "europäisches Rüstungsprojekt"
Europa und die Welt befinden sich inmitten einer ganzen Reihe von Krisen: von Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten über die Erderwärmung, Migration und neue Herausforderungen durch "Künstliche Intelligenz" bis hin zu Chaos in der Weltwirtschaft aufgrund des US-Handelskriegs.
Die Zukunft könne man sich entweder hoffnungsvoll-utopisch oder apokalyptisch ausmalen - er glaube aber an ein drittes Szenario: chaotische, unvorhersehbare Zeiten, die aber bewältigbar sind.
"Europäisches Rüstungsprojekt"
Europa müsse sich seiner Möglichkeiten und seines Potenzials bewusst werden, wünscht sich der Bundespräsident. Und er fragt: "Warum starten wir nicht ein Projekt wie Airbus, das ein wahres paneuropäisches Projekt ist und eine unglaubliche Erfolgsgeschichte?"
"Warum nicht ein großes europäisches Eisenbahnprojekt, mit dem Ziel, die europäischen Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitszügen zu verbinden", so ein weiterer Vorschlag des Bundespräsidenten.
Und er plädiert: "Warum nicht ein gemeinsames, europäisches Rüstungsprojekt?" Denn wenn Europa schon mehr in seine Verteidigung investieren müsse - "und das müssen wir", so Van der Bellen - "dann bitte doch kooperativ und groß gedacht".
Auch bei Künstlicher Intelligenz könne Europa souverän werden und eigene Projekte auf die Beine stellen.
Verhandlungsmacht bewusst ausspielen
Es werde Zeit, dass Europa seine eigenen Stärken anerkenne. Europa müsse sehen, "dass wir ein mächtiger Wirtschaftsraum sind" und als solcher "Verhandlungsmacht haben und diese auch ausspielen können".
Die gesamte Rede im Wortlaut
Meine Damen und Herren, wir leben in interessanten Zeiten.
Die liberale Demokratie steht unter Druck.
Es scheint, als wäre, global betrachtet, nicht der Rechtsstaat, sondern das Recht des Stärkeren auf dem Vormarsch. Es scheint populärer zu werden, Demokratie für zu weich, zu langsam, zu kompromissorientiert zu halten.
Menschenrechte, die wir hart erkämpft haben, und auf denen wir unseren erfolgreichen Kontinent gebaut haben, werden in Frage gestellt.
Dazu kommt, dass das Erfolgsmodell „Europa“ von vielen als dysfunktional angesehen wird, zu bestimmend, zu unbestimmt, zu wirtschaftlich restriktiv, zu langsam, zu nachdenklich, zu verkopft, zu – europäisch.
Dabei haben wir Europäer gemeinsam in den letzten Jahrzehnten große Um- und Aufbrüche friedlich und zum Wohle aller bewältigt und eine gemeinsame Basis entwickelt. An der wird jetzt kräftig gerüttelt. Von außen. Und von innen.
Ja, wir leben in interessanten Zeiten.
Die rasende technologische Entwicklung stellt uns vor die Frage: Treten wir ein in ein goldenes Zeitalter der Artifiziellen Intelligenz, das uns alle reicher und glücklicher macht, oder glänzt dieses Gold nur für einige wenige Angehörige der technologischen Elite – einer recht überschaubaren Gruppe von Tech-Milliardären?
Wir leben in Zeiten bevorstehender, schwelender oder offener Konflikte in vielen Winkeln der Welt. Am Rande Europas, im Nahen Osten, in Teilen Afrikas. Spannungen, Auseinandersetzungen allenthalben.
Wir leben in interessanten Zeiten.
Und ungewissen, was die Zukunft der Menschheit betrifft: Ein „heißester Sommer der Messgeschichte“ jagt den nächsten, mit all den absehbaren und unabsehbaren Folgen für unsere Gesellschaften.
So viele Krisen, man kommt ja gar nicht mehr nach mit dem Wegschauen. Ich kann nachvollziehen, wenn dieser Wunsch: „Mögest du in interessanten Zeiten leben“ in China als Fluch verstanden wird.
Und ich hier, in meiner Rolle als Bundespräsident, denke mir auch manchmal: Wie lässt sich in all diesem Chaos noch irgendein Prinzip finden, an dem wir alle gemeinsam uns wieder aufrichten können und das uns hilft, Zuversicht zu entwickeln und den Mut, die Dinge anzugehen?
Eines dieser positiven Prinzipien finden wir passenderweise im „Freischütz“: Achtung Spoileralarm! Jeder Fluch lässt sich bannen. Und was für den Freischütz gilt, gilt auch für den Wunsch von den „interessanten Zeiten“.
Auch dieser Fluch verliert an Kraft, wenn die konstruktiven Mächte sich sammeln und zusammenarbeiten.
Lassen Sie uns zunächst die Situation und die möglichen Szenarien analysieren.
Wie kann es weitergehen?
Ein mögliches Szenario ist, dass alles nicht so schlimm wird. Dass alle Dinge, die sich gerade abzeichnen oder gerade passieren, sich wieder beruhigen, die Kriege auf wundersame Weise enden, die Menschen sich in die Arme fallen, und ein goldenes Zeitalter beginnt.
Nicht unmöglich. Aber auch nicht sehr wahrscheinlich.
Ein weiteres mögliches Szenario ist das Gegenteil: Dass alles schiefgeht, was schiefgehen kann, und wir auf eine Apokalypse zusteuern, die Welt in Flammen aufgeht und wir in einem phänomenalen Crash an die Wand fahren.
Auch nicht unmöglich. Auch nicht sehr wahrscheinlich. Ok, vielleicht ein bisschen wahrscheinlicher als das erste Szenario.
Ich persönlich halte das dritte Szenario für am wahrscheinlichsten: Die Zukunft wird weder paradiesisch noch apokalyptisch sein. Sie wird turbulent und unvorhersehbar. Sie wird einmal gut und ein anderes Mal chaotisch verlaufen. Und in welche Richtung das Pendel ausschlägt, können wir alle mitbestimmen.
Wenn wir die Realität anerkennen, können wir sie aktiv gestalten – und die Hoffnung behalten.
Anstatt uns in Alltagsflucht oder Schreckensszenarien zu verlieren, lassen Sie uns die Dinge ruhig und entschlossen anpacken. Und so zu einem Mindset finden, das uns in die Zukunft führt.
Aber was meine ich damit?
Erstens: Akzeptieren wir die Welt, wie sie ist und leben wir damit.
Sehen wir die Realität nicht so, wie wir sie haben wollen. Und auch nicht so, wie wir sie fürchten. Sehen wir sie, wie sie ist.
Erst dann können wir möglichst effektiv und ruhig tun, was zu tun ist. Wir müssen der Ungewissheit mit innerer Klarheit und auch einer gewissen Entschlossenheit begegnen.
Zweitens: Hören wir nicht auf, zu lernen.
So schnell, wie die Welt sich verändert, hilft uns statisches Wissen nur bedingt. Wir müssen vielmehr eine unstillbare Neugier kultivieren. Nach kontinuierlicher Weiterentwicklung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten streben.
Zukunftskompetenzen erfordern den Mut, anzuerkennen, dass Bildung nie abgeschlossen ist.
Drittens: Lassen Sie uns beweglich bleiben.
So anstrengend es ist, wir dürfen uns nicht ausruhen, auf dem, was wir gemeinsam erreicht haben. Auch wenn es sehr viel ist.
Wir können unseren Status nur erhalten und ausbauen, wenn wir jeden Tag etwas tun für ihn.
Diese drei einfachen Prinzipien: Anerkennen, was ist; lebenslang dazulernen und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln, werden uns helfen, die Zukunft zu navigieren. Selber zu bestimmen, wohin die Reise geht und sie nicht von anderen bestimmen zu lassen.
Und meine Damen und Herren, wollen wir, dass sich in einer Herrschaft der Wenigen über die Vielen das Geld, die Technik, die Macht in einem kleinen elitären Kreis konzentriert oder wollen wir in einer offenen Welt in Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit leben?
Wollen wir in einem Europa leben, das nicht für seine eigene Sicherheit garantieren kann und deshalb als schwach und steuerbar wahrgenommen wird?
Oder wollen wir, dass unser Kontinent souverän ist, digital souverän und auch sicherheitspolitisch?
Warum starten wir nicht ein Projekt wie Airbus, das ein wahres paneuropäisches Projekt ist und eine unglaubliche Erfolgsgeschichte?
Warum nicht ein großes europäisches Eisenbahnprojekt, mit dem Ziel, die europäischen Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitszügen zu verbinden?
Warum nicht ein gemeinsames, europäisches Rüstungsprojekt? Wenn wir schon mehr in unsere Verteidigung investieren müssen, und das müssen wir, dann bitte doch kooperativ und groß gedacht.
Warum nicht ein solches gemeinsames europäisches Projekt auch in der digitalen Welt beginnen? Warum sollten wir nicht fähig sein, eine europäische KI zu bauen? Ein digital souveränes Europa zu werden?
Ist es nicht an der Zeit, unsere eigenen Stärken anzuerkennen und zu sehen, dass wir ein mächtiger Wirtschaftsraum sind? Und als solcher Verhandlungsmacht haben und diese auch ausspielen können?
Ist es nicht an der Zeit, stolz zu sein, auf das, was wir in Europa erreicht und erkämpft haben?
Ein unvergleichlich großartiges, strahlendes Friedensprojekt. Das ist eine zivilisatorische Großtat, die wir verteidigen sollen!
Meine Damen und Herren, ja wir leben in interessanten Zeiten. Es liegt an uns allen, dass wir dieses Wort „interessant“ positiv lesen: als stimulierend, anregend fordernd, aber letztlich etwas, das uns dazu bringt, etwas Neues zu lernen über uns und die guten Seiten des Menschseins.
Zu diesen guten Seiten gehören mit Sicherheit Kunst und Kultur.
Festspiele, wie hier in Bregenz, haben einen Wert für unser Land. Ich wünsche der neuen Intendantin, Lilli Paasikivi, toi toi toi für ihre erste Saison.
Ich eröffne hiermit die Bregenzer Festspiele, mögen sie uns Freude und Inspiration bringen!
Zusammenfassung
- Wie jedes Jahr eröffnete Bundespräsident auch heuer die Bregenzer Festspiele mit einer Rede.
- Diesmal plädierte er für mehr europäische Großprojekte - unter anderem ein "gemeinsames, europäisches Rüstungsprojekt" nach dem Vorbild von Airbus.
- Es werde Zeit, dass Europa seine eigenen Stärken anerkenne.
- "Dass wir ein mächtiger Wirtschaftsraum sind" und als solcher "Verhandlungsmacht haben und diese auch ausspielen können", so der Bundespräsident.