Syrien
Massaker an Alawiten: Kommandokette führt nach Damaskus
Die Nachforschungen dokumentieren die Tötung von fast 1.500 Alawiten. Die Befehlskette der Täter führte demnach direkt zu Kommandanten, die heute im Dienst der neuen syrischen Regierung stehen. Viele von ihnen wurden nach den Taten befördert.
Die Recherche stützt sich dabei auf die Aussagen von mehr als 200 Familien, 40 Sicherheitskräften und Kämpfern sowie auf verifizierte Videos und interne Chat-Protokolle. Darin wird eine klare Befehlskette offengelegt, die bis ins Verteidigungsministerium in Damaskus reicht.
Dessen Sprecher, Hassan Abdel-Ghani, koordinierte demnach über eine Telegram-Chatgruppe den Einsatz der Milizen. Auf die Massaker angesprochen, erklärte er in dem Chat lediglich: "Möge Gott Euch belohnen." Abdel-Ghani bestätigte gegenüber Reuters, von einem Untersuchungsausschuss befragt worden zu sein, lehnte aber eine weitere Stellungnahme ab.
Auslöser der Gewalt war ein Aufstand von Offizieren, die dem von Rebellengruppen unter Führung einer islamistischen Miliz gestürzten Präsidenten Bashar al-Assad treu ergeben waren. Am 6. März griffen sie Kontrollposten der neuen Regierung an, wobei laut deren Angaben 200 Sicherheitskräfte getötet wurden.
Daraufhin erging der Befehl, den Putschversuch der "Fulul" (Überreste) des Regimes niederzuschlagen. Moscheen riefen zum Jihad auf. Viele der Kämpfer interpretierten den Befehl als Freibrief, gegen alle Alawiten vorzugehen - eine Minderheit, die viele in Syrien für die Verbrechen der Assad-Familie verantwortlich machen.
Die Massaker begannen vor Sonnenaufgang entlang der Hauptverkehrsadern an der Küste. In Al-Muthariqa stürmten Kämpfer, viele in Uniformen des Sicherheitsdienstes GSS, die Häuser. Als die Schüsse nach einer Stunde verstummten, waren 157 Menschen tot - fast ein Viertel der Dorfbevölkerung. "Die Kugeln prasselten auf uns nieder", sagte eine Frau, die ihren Vater und ihre Brüder verlor.
In der landwirtschaftlich geprägten Gemeinde Sonobar, einer Hochburg des alawitischen Al-Klasyia-Clans, dem auch die Assad-Familie angehört, rückten neun verschiedene Milizen ein. Darunter waren die Eliteeinheit 400 der inzwischen aufgelösten Islamisten-Miliz HTS, deren frühere Führung nun die Regierung dominiert, und die Sultan-Suleiman-Schah-Brigade, die wegen Menschenrechtsverletzungen unter US-Sanktionen steht. Ein junger Mann überlebte, indem er sich in einer Speisekammer versteckte, während elf seiner Verwandten erschossen wurden. Insgesamt starben in Sonobar 236 Menschen. Auf eine Hauswand schrieben die Täter: "Ihr wart eine Minderheit, jetzt seid ihr eine Rarität."
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In Al-Rusafa zwangen die Angreifer junge Männer, sich auf den Boden zu legen und wie Hunde zu heulen, während sie gefilmt wurden. Dem 25-jährigen Suleiman Rachid Saad wurde das Herz aus der Brust geschnitten und auf seinen Körper gelegt. Sein Vater erhielt einen Anruf vom Telefon des Sohnes: "Wir haben ihn getötet. Hol deinen Sohn, bevor die Hunde ihn fressen." In dem Ort starben 60 Alawiten, darunter ein vierjähriges Kind.
In der Stadt Kurfays scheiterte ein Vermittlungsversuch von Dorfältesten mit Kämpfern der Othman-Brigade. Während der Gespräche wurden am Schrein der Stadt mehrere unbewaffnete Männer erschossen. Am nächsten Morgen rückte ein Konvoi mit 80 Fahrzeugen an und eröffnete das Feuer. Insgesamt starben 23 Menschen. Ein Überlebender, dessen Bruder getötet wurde, sagte, ein Kämpfer habe ihm das Weinen verboten. "Ich hatte nicht den Mut zu weinen."
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Am Sonntag ließen die Tötungen nach. In den Straßen lagen Leichen, die teilweise von Hunden angefressen wurden. In der Stadt Baniyas, wo der Aufstand begonnen hatte, mussten 253 Tote beerdigt werden. In Jabla lag die Zahl der Toten bei 77. Dort weigerte sich ein GSS-Offizier, einer alawitischen Witwe eine Todesurkunde für ihren Mann auszustellen. "Er sagte: 'Ungläubige!' und ging weg", berichtete sie. Für die meisten Opfer der Massaker gibt es bis heute keine offiziellen Todesurkunden.
Die Folgen: Beförderungen statt Anklagen
Bisher wurde niemand für die Morde im März angeklagt. Stattdessen wurden mehrere Kommandeure der beteiligten Milizen von der neuen Regierung befördert. Der Anführer der Sultan-Suleiman-Schah-Brigade, Mohammed al-Jassim, stieg zum Brigadegeneral auf, ebenso der Chef der Hamsa-Division, Saif Bulad Abu Bakr.
Der Anführer der Eliteeinheit 400, Abul Khair Taftanas, wurde sogar zum General befördert und ist nun für die Regionen Latakia und Tartus verantwortlich.
Die Gewalt spiegelt den tiefen Hass zwischen religiösen und ethnischen Gruppen in Syrien wider. Ein besonders düsteres Beispiel ist das Dorf Arsa, das von Assad im Bürgerkrieg als Basis für Angriffe auf sunnitische Nachbardörfer aus dem Rebellenlager genutzt wurde. Am 7. März führten Männer aus dem Nachbardorf einen Angriff auf Arsa, bei dem 23 Menschen starben.
Ihr Anführer, Abu Jaber al-Chattabi, sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Das ist so etwas wie die ultimative göttliche Gerechtigkeit. So wie ihr uns heimatlos gemacht habt, werdet ihr heimatlos sein." Er hat das Dorf inzwischen in "Neu-Chattab" umbenannt.
Video: Innenminister Karner in Syrien
Zusammenfassung
- Eine umfassende Recherche der Nachrichtenagentur Reuters hat systematische Massaker an Mitgliedern der alawitischen Minderheit in Syrien aufgedeckt, die Anfang März von regierungsnahen sunnitischen Milizen verübt wurden.
- Die Nachforschungen dokumentieren die Tötung von fast 1.500 Alawiten. Die Befehlskette der Täter führte demnach direkt zu Kommandanten, die heute im Dienst der neuen syrischen Regierung stehen. Viele von ihnen wurden nach den Taten befördert.
- Die Recherche stützt sich dabei auf die Aussagen von mehr als 200 Familien, 40 Sicherheitskräften und Kämpfern sowie auf verifizierte Videos und interne Chat-Protokolle.