Kritik an strukturellen Barrieren für Kinder mit Behinderung
"Es reicht nicht, dass Rechte auf dem Papier stehen", sagte Sebastian Öhner, Wiener Kinder- und Jugendanwalt. Die Rechte müssten im Alltag gelebt werden, kritisierte er eine Diskrepanz zwischen Rechtsanspruch und Realität. Österreich hat sich im Jahr 2008 der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Viele darin festgeschriebene Rechte für Kinder mit Behinderung seien jedoch nicht in der Lebenswelt der Betroffenen angekommen, so Öhner. Dabei gehe es zum Beispiel um das verpflichtende Kindergartenjahr, das für manche Familien wegen fehlender Plätze nur ein frommer Wunsch bleibt. Ein ähnliches Problem existiert bei der Bildungsassistenz in Schulen.
Dass der Inhalt der UN-Konvention für Österreich bindend sei, daran erinnerte auch Daniela Rammel aus dem Vorsitzteam des Unabhängigen Monitoringausschusses. "Das ist kein freiwilliges Zusatzprogramm", bemängelte sie die lückenhafte Umsetzung. "Kinder mit Behinderungen sind Trägerinnen und Träger von Rechten. Ihre Rechte dürfen nicht vom Wohlwollen, Wohnort oder von familiären Ressourcen abhängen", forderte sie.
Aus der Praxis berichtete Rammel von vier zentralen Problemfeldern für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Dazu gehören Stigmatisierung und Mobbing, der erschwerte Zugang zu Information und Gesundheit, der erschwerte Zugang zu Freizeit und Assistenz und fehlende Partizipation und Selbstbestimmung. In Sachen Gesundheit fehlen zum Beispiel oft Erklärungen in einfacher Sprache, so hätten Menschen mit Behinderung einen erschwerten Zugang zu Diagnosen. Weiters werde in Arztpraxen oft nicht mit ihnen, sondern lediglich über sie gesprochen, kritisierte Rammel.
Christine Steger, Anwältin für Gleichbehandlungsfragen für Menschen mit Behinderungen, prangerte am Mittwoch vor allem massive regionale Unterschiede für Kinder und Jugendliche mit Behinderung an. "Inklusion und Teilhabe scheitert in Österreich nicht an den Kindern, sondern an systemischen Voraussetzungen", beklagte sie.
Schulassistenz teils kompliziert abgewickelt
Die Schulassistenz zum Beispiel ist in einzelnen Bundesländern rechtlich fest verankert, in anderen werde sie über Sozialhilfe, Förderprogramme oder projektbezogene Finanzierungen abgewickelt - also kompliziert. Diese regionalen Unterschiede würden das Leben der Kinder maßgeblich beeinträchtigen und Kinderrechte verletzen, so Steger. "Das ist kein funktionierendes System, das ist eine Zumutung", sagte sie.
"Inakzeptabel" sei auch, dass anstatt inklusive Strukturen zu stärken, wieder vermehrt in Sonderschulen investiert werde. Das sei ein "massiver Rückschritt" und sende ein fatales Signal - nämlich, dass manche Kinder nicht in die Mitte der Gesellschaft gehören. Auch Sebastian Öhner ortet in manchen Bereichen im Moment sogar eher Verschlechterungen statt Verbesserungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.
Steger verlangt von den politischen Entscheidungsträgern, den Bau neuer Sonderschulen in Österreich zu stoppen. Dabei gehe es ihr nicht darum, Sonderschulen abzuschaffen, sondern die Expertise aus der Sonderschule in eine Schule für alle zu integrieren. "Österreich hat sich verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen", so Steger. "Kinderrechte gelten nicht irgendwann. Kinderrechte gelten heute, immer und überall."
Wiederkehr: Bekenntnis zu Inklusion
Bildungsminister Christoph Wiederkehr (NEOS) betonte am Mittwoch am Rande einer weiteren Pressekonferenz in Wien, dass ihm und der gesamten Bundesregierung das Thema Inklusion "sehr, sehr wichtig" sei. Im Regierungsprogramm hätten sich ÖVP, SPÖ und NEOS auf Anreize zur "verkehrten Inklusion" geeinigt, bei der man Sonderschulen auch für den gemeinsamen Unterricht mit Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung öffnet. Die konkrete Ausgestaltung der Schulstruktur in diesem Bereich sei allerdings Sache der Länder, schränkte er ein.
Im Ministerium werde auch an einer Reform der Zuteilung von Sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) an Schüler mit körperlichen der psychischen Beeinträchtigungen gearbeitet. Derzeit gibt es hier laut einer vom Bildungsressort beauftragten Studie je nach Bundesland ganz unterschiedliche Praktiken, einheitliche Begutachtungskriterien und Qualitätsstandards fehlten. Außerdem hat die Regierung sich vorgenommen, dass Kinder mit Behinderung einen Rechtsanspruch auf ein freiwilliges 11. und 12. Schuljahr erhalten sollen. Das Thema der persönlichen Assistenz werde aktuell in der Reformpartnerschaft mit Ländern und Gemeinden diskutiert.
Zusammenfassung
- Regionale Unterschiede und komplizierte Abwicklungen bei der Schulassistenz sowie fehlende einheitliche Standards beim Sonderpädagogischen Förderbedarf führen laut Expertinnen zu Benachteiligungen und Verletzungen von Kinderrechten.
