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Kolumbien setzt Meilenstein in Aufarbeitung des Bürgerkriegs

Heute, 03:01 · Lesedauer 5 min

In Kolumbien hat die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) diese Woche ihre ersten großen Urteile verkündet - ein Meilenstein in der Aufarbeitung des jahrzehntelangen Bürgerkriegs. Innerhalb weniger Tage verurteilte das Gericht sowohl ehemalige Guerillakommandanten der FARC als auch Militärs wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen. Für die Opfer ist dies ein historischer Moment, doch die Strafen sorgen zugleich für kontroverse Debatten.

Die JEP ist aus dem Friedensabkommen von 2016, das den Konflikt zwischen der Regierung und der Guerillaorganisation FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) beendete, entstanden. Sie gilt als eines der weltweit ambitioniertesten Experimente für Übergangsjustiz: Statt nur Gefängnisstrafen zu verhängen, setzt das Gericht auf Wahrheitsfindung, Anerkennung von Schuld und Wiedergutmachung. Wer umfassend kooperiert, kann mit milderen, "restaurativen" Strafen rechnen. Die Logik dahinter: Der Krieg hat Hunderttausende Opfer gefordert, doch Strafprozesse nach herkömmlichem Muster würden Jahrzehnte dauern - und womöglich nie Antworten liefern. Außerdem soll das soziale Geflecht in einer erschütterten Gesellschaft wiederhergestellt werden.

Den Auftakt machte die JEP am Dienstag mit einem Urteil gegen sieben Mitglieder des letzten FARC-Sekretariats, der obersten Führungsebene der Guerilla. Sie wurden für die systematische Entführung von Zivilisten verantwortlich gemacht - eine berüchtigte Vorgehensweise der damaligen FARC, mit der - laut dem Urteil - systematisch Lösegeld erpresst, politische Gefangene ausgetauscht und ganze Regionen terrorisiert wurden. Die Verbrechen gelten als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Statt Gefängnis müssen die ehemaligen Kommandanten acht Jahre lang in Wiedergutmachungsprojekten beispielsweise in der Landwirtschaft oder bei der Opfersuche arbeiten, unter strengen Auflagen und öffentlicher Kontrolle.

Nur zwei Tage später folgte das zweite große Urteil: Zwölf frühere Militärangehörige des Bataillons La Popa wurden für die sogenannten "Falsos Positivos" verurteilt. Darunter versteht man außergerichtliche Hinrichtungen von Zivilisten, die fälschlich als gefallene Guerilleros dargestellt wurden, um militärische Erfolge vorzutäuschen und dafür finanzielle Belohnungen zu erhalten. Zwischen 2002 und 2005, in der Amtszeit von Präsident Álvaro Uribe, wurden in der Karibikregion 135 solcher Opfer identifiziert, landesweit waren es mindestens 6.400.

Viele der Getöteten stammten aus armen Regionen und gehörten indigenen Gemeinschaften an; zahlreiche junge Männer waren mit Aussicht auf Arbeit in entlegene Gebiete gelockt worden, um dort getötet zu werden. Angehörige kämpften über Jahre hinweg für juristische Konsequenzen. Das Gericht hob die besondere Bedeutung der ethnischen Dimension dieses Falles hervor. Die zwölf verurteilten Soldaten erhielten Strafen zwischen fünf und acht Jahren, die sie durch gesellschaftlich nützliche Projekte ableisten sollen.

Kritik an "milden Urteilen"

Kritik gab es insbesondere von den Überlebenden der Entführungen der Ex-FARC und den Angehörigen der "Falsos Positivos". Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen begrüßten zwar die historische Anerkennung der Verbrechen, warfen der JEP jedoch vor, die Strafen seien zu milde. "Wer tötet und foltert, darf nicht mit ein paar Jahren Sozialarbeit davonkommen", lautet ein wiederkehrender Vorwurf. Manche fürchten sogar, das Modell untergrabe das Vertrauen in die Justiz.

Die JEP verteidigt sich entschieden gegen diese Kritik. Ihr Präsident Alejandro Ramelli betonte, Straflosigkeit bedeute, dass Taten gar nicht untersucht würden. "Wir haben Personen zur Verantwortung gezogen, die zuvor nie vor Gericht standen, wegen Delikten, die noch nie aufgearbeitet wurden", sagte er. Die Urteile seien kein Freibrief, sondern streng kontrollierte Strafen, die sichtbare Wiedergutmachung erzwingen.

Die Täter müssen unter Aufsicht leben, Bewegungsfreiheit und Arbeitszeiten sind eingeschränkt, digitale Überwachung ist vorgesehen. Geplant sind Projekte wie der Bau von Gedenkstätten oder Maßnahmen zur Unterstützung betroffener Gemeinschaften. Die Aufgabe des Friedens-Tribunals sei es, "das soziale Geflecht", das durch den über 50 Jahre währenden Bürgerkrieg verloren gegangen sei, wiederherzustellen, erklärte der Präsident der JEP.

UNO-Generalsekretär begrüßt "historischen Schnitt"

Auch die Vereinten Nationen sehen in den Urteilen einen historischen Schritt. Generalsekretär António Guterres begrüßte die Entscheidungen ausdrücklich und mahnte zugleich, die Umsetzung müsse konsequent erfolgen, damit die Opfer tatsächlich Entschädigung und Anerkennung erhalten könnten.

Mit den beiden Urteilen versucht die JEP ein Gleichgewicht zu schaffen: Einerseits sollen die Verbrechen der Guerilla sichtbar gemacht werden, andererseits jene von staatlichen Akteuren. Beide Seiten haben in dem Konflikt unermessliches Leid verursacht, deshalb entschied sich das Gericht diese Woche, die Verbrechen der Rebellen zu verurteilen und ebenso die der Militärs und paramilitärischen Strukturen. Insgesamt untersuchte die JEP rund 6.400 mutmaßliche Fälle von "Falsos Positivos" im ganzen Land sowie unzählige Taten, darunter mehr als 21.000 Entführungen der FARC.

Für Kolumbien ist der Weg der Übergangsjustiz ein riskantes Experiment: Er verlangt den Opfern, den Tätern und der Gesellschaft viel Geduld und Vertrauen ab. Das Gericht ermittelt in Regionen, die noch heute von bewaffneten Konflikten geplagt sind. Doch die Alternative wäre womöglich eine Fortsetzung der Straflosigkeit, die den Konflikt über Jahrzehnte prägte. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die JEP ihrem Versprechen gerecht wird - und ob die kolumbianische Gesellschaft diesen neuen Umgang mit der Vergangenheit tragen kann.

(Von Sara Mayer/APA aus Bogotá)

Zusammenfassung
  • Die kolumbianische Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) hat erstmals sieben ehemalige FARC-Kommandanten und zwölf Militärangehörige wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen verurteilt.
  • Statt Gefängnisstrafen sieht das JEP-Modell für die Täter acht Jahre Wiedergutmachungsarbeit in gesellschaftlichen Projekten vor, unter strengen Auflagen und Kontrolle.
  • Im Fall der Militärs geht es um die sogenannten 'Falsos Positivos', bei denen zwischen 2002 und 2005 allein in der Karibikregion 135 Zivilisten getötet und landesweit mindestens 6.400 Opfer identifiziert wurden.
  • Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die als zu milde empfundenen Strafen, während die JEP auf die historische Aufarbeitung und öffentliche Überwachung verweist.
  • Die UNO sieht in den Urteilen einen 'historischen Schritt' und fordert eine konsequente Umsetzung, damit die mehr als 21.000 untersuchten FARC-Entführungen und tausende weitere Fälle tatsächlich aufgearbeitet werden.