Séverine Chavrier inszeniert Thomas Bernhards "Kalkwerk"
Was Chavrier 2022 unter dem Titel "Ils nous ont oubliés" (Sie haben uns vergessen) als Leiterin des Centre Dramatique Orléans / Centre-Val de Loire am Teatre Nacional de Catalunya in Barcelona herausgebracht hat und seit 2023 auch an der von ihr geleiteten Comédie de Genève zeigt, ist wie ein fast vierstündiger Albtraum, in dem klaustrophobischer Horror und psychische Folter ebenso präsent sind wie Musik, Videos und Vogelstimmen. "Ich mag es, wenn aus Szenografie, Musik, Video, Ton und Spiel ein organisches Ganzes entsteht", erzählt die Regisseurin im Interview mit der APA. "Es ist ein wenig wie Thema und Variation in der Musik: die ewige Wiederholung. Immer dasselbe, aber immer anders. Wie bei Thomas Bernhard eben!"
"Kalkwerk" erschien 1970 und handelt an einem von der Außenwelt abgeschotteten Schauplatz von einer sehr ungleichen Paarbeziehung. Die gehbehinderte Frau ist ihrem Mann, der einen großen Essay über das Gehör verfassen will, ausgeliefert. "Ich bewundere Bernhards puren, direkten Zugang zum großen Absoluten der Kunst. Das ist auch sehr präsent in 'Kalkwerk', das von einem Mann erzählt, der etwas schreiben will, das er im Kopf hat, doch es gelingt ihm nicht, ein erstes Wort zu Papier zu bringen", schildert Chavrier einen ihrer Zugänge zu dem Roman.
Ein anderer Zugang ist die Konzentration hoher Emotionen auf zwei Personen. "Die starke Gewalt in dieser Beziehung ist wechselseitig. Der Zusammenhalt durch Hass und Abhängigkeit in dieser Paarbeziehung ist eine Prüfung für beide. Es ist herausfordernd, das in Szene zu setzen. Man spürt eine große Spannung. Gleichzeitig gibt es auch viel Humor. Diese Verrücktheit hat auch etwas Lustiges. Das versuchen wir mit unserer Erzählweise aufzunehmen", erzählt die Regisseurin, die auch schon "Ritter, Dene, Voss" inszeniert hat. "Da ist Bernhard viel weiter in seinem Werk, da steckt viel mehr von seiner Kritik an der österreichischen Gesellschaft und ihrer Nazivergangenheit drinnen. 'Kalkwerk' steht am Anfang, hier konzentriert er sich ganz auf die Brutalität, die Misanthropie, den Wahnsinn, die Isoliertheit. Diese 'Unheimlichkeit' (Chavrier verwendet das deutsche Wort, Anm.) hat mich sehr interessiert."
Das Unheimliche beherrscht den Abend
Das Unheimliche hat sie in ihrer Inszenierung, die als "ein musikalisches Gedicht über den Zerfall einer Ehe und die Paranoia eines Mannes im Geiste von Ingmar Bergman und Stanley Kubrick" annonciert wird, mit vielen Eingriffen verstärkt. Sie hat mit einer Krankenschwester eine dritte Protagonistin eingeführt ("In einer Dreiecksbeziehung kann man Gewalt besser zeigen."), einen Masken tragenden Chor hinzugefügt, lässt eine Bühnenwand zertrümmern, hat ein beengtes Untergeschoß bauen lassen und lässt fixe Kameras alles aufnehmen. "Die Frage ist: Wer überwacht wen? Er seine Frau? Wir die beiden? Die Gesellschaft schaut durchs Schlüsselloch. Es erinnert ein bisschen an Elfriede Jelinek."
Die 1974 in Lyon Geborene, die nicht nur Musik und Schauspiel, sondern auch Philosophie und Literaturwissenschaften studierte, hat auch ein paar Jelinek-Sätze in den Abend eingebaut und outet sich als großer Fan der österreichischen Nobelpreisträgerin. "Sie ist schon die Erbin von Thomas Bernhard bei vielen Themen und hat diese um das Gesellschaftliche und Feministische erweitert. In gewisser Weise repräsentiert die junge Frau in meiner Inszenierung genau diesen Zugang. Ich habe viel von Elfriede Jelinek gelesen und würde gerne ein Stück von ihr auf die Bühne bringen. Sie sind sehr dicht. Man müsste nur einen kleinen Teil herausnehmen, weil so viel in ihnen steckt."
Trotz dieser großen Affinität zu österreichischer Literatur war hierzulande noch nie eine Inszenierung von Séverine Chavrier zu sehen. "Ich bin sehr glücklich, nun mit Thomas Bernhard nach Österreich zu kommen und schon sehr neugierig auf die Reaktionen. In Frankreich sagt man mir ja manchmal nach, dass ich mehr deutsches als französisches Theater mache ..."
Opernarien und Handyvideos
Als Theaterleiterin in der Schweiz unternimmt sie große Anstrengungen, ein junges Publikum für die Bühne zu interessieren. In ihrer aus Straßburg übernommenen Produktion "Aria da Capo" hat sie Opernarien mit Handyvideos kombiniert und so heutige Alltagsästhetik in die Auseinandersetzung mit Hochkultur integriert. Oper hat diese hoch musikalische Regisseurin jedoch noch nie inszeniert. Wie das? "Man hat mir das noch nie konkret angeboten. Ich finde es aber auch schwierig, denn Oper verlangt einen anderen Arbeitsrhythmus. Man braucht viel mehr Zeit. Und gleichzeitig herrscht aber von der Ouvertüre weg ein großer Zeitdruck auf der Bühne. Ich mag es, Musik zu benützen, werde aber nur ungern von der Musik bestimmt. Ich habe gerne meine Freiheit im Umgang mit Musik."
Dennoch scheint ihr Operndebüt nur eine Frage der Zeit. Vielleicht kommt es ja in Wien zu ersten Gesprächen? Was infrage kommen könnte, das kristallisiert sich im Interview jedenfalls rasch heraus. "Den italienischen Belcanto liebe ich nicht so sehr. Viel mehr mag ich Mozart, dann Debussy und Schönberg. Und Ligeti natürlich!"
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - "Ils nous ont oubliés. Sie haben uns vergessen" nach dem Roman "Kalkwerk" von Thomas Bernhard, Regie: Séverine Chavrier, Gastspiel im Rahmen der Wiener Festwochen in der Halle E im Museumsquartier, 5. bis 7. Juni, www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Séverine Chavrier bringt ihre fast vierstündige Inszenierung von Thomas Bernhards "Kalkwerk" vom 5. bis 7. Juni zu den Wiener Festwochen in die Halle E im Museumsquartier.
- Die Produktion, die bereits 2022 in Barcelona uraufgeführt und seit 2023 in Genf gezeigt wurde, verbindet Musik, Videos, Vogelstimmen und eine albtraumhafte Atmosphäre.
- Chavrier erweitert die Romanvorlage um eine Krankenschwester als dritte Figur, einen Maskenchor und eine allgegenwärtige Videoüberwachung, um Gewalt und Kontrolle sichtbar zu machen.
- Im Fokus steht die brutale, von Hass und Abhängigkeit geprägte Beziehung eines Paares, die Chavrier mit Humor und Anleihen bei Elfriede Jelinek inszeniert.
- Die 1974 in Lyon geborene Regisseurin ist erstmals mit einer Inszenierung in Österreich vertreten und sieht in Bernhards Werk eine Mischung aus Wahnsinn, Misanthropie und künstlerischer Radikalität.