APA/APA/Centers for Disease Control and Prevention/ALISSA ECKERT

Warnung vor Fehldiagnosen bei Post Covid und ME/CFS

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Sogenannte postvirale Folgeerkrankungen wie etwa Long bzw. Post Covid sind seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich häufiger geworden. Häufig würden sie jedoch nicht korrekt diagnostiziert.

Die Corona-Pandemie hat seit 2020 zu einem deutlichen Anstieg von postviralen Folgeerkrankungen geführt. 

Experten wie Kathryn Hoffmann von der MedUni Wien warnen nun davor, diese Krankheitsbilder wie Long bzw. Post Covid aber auch ME/CFS fälschlicherweise als psychische Erkrankungen einzuordnen.

Derartige Fehldiagnosen würden eine adäquate Behandlung verhindern, Fehlbehandlungen teils starke Schäden verursachen. Auch soziale und finanzielle Probleme sind die Folge.

Die richtige Diagnostik bei solchen postakuten Infektionssyndromen (PAIS) hätten die meisten Medizinerinnen und Mediziner "noch nicht wirklich am Schirm", sagte Hoffmann, die am Zentrum für Public Health der MedUni Wien die Abteilung für Primary Care Medicine leitet, im Gespräch mit der APA. Die Crux sei, dass einzelne Symptome von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom), aber auch Long bzw. Post Covid auf den ersten Blick jenen von psychischen Erkrankungen ähneln können.

Die Symptome seien aber mittels adäquater Diagnostik gut voneinander abgrenzbar, betonten im APA-Gespräch Hoffmann sowie der niedergelassene Psychiater Florian Buchmayer (Wien) und Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Eisenstadt.

Auch die deutsche Psychologin Bettina Grande und der Linzer Psychologe Markus Gole verwiesen gegenüber der APA auf die Notwendigkeit einer exakten Anamnese, um Fehldiagnosen zu vermeiden.

Zwar gebe es bei den PAIS-Symptomen einige Überschneidungen bzw. Verwechslungsgefahr mit psychischen Erkrankungen, etwa mit Depressionen, sagte Buchmayer. Insbesondere die sogenannte PEM (Post-Exertional-Malaise), die laut Hoffmann bei ME/CFS das "Kardinalsyndrom" darstellt, wird oft mit Depressionen verwechselt - dabei würden auch aktuellste Studien wieder zeigen, dass PEM eine körperliche Belastungs-Erholungsstörung auf Immun- und Zellstoffwechselebene ist. Und auch die oft fälschlicherweise diagnostizierten Somatisierungsstörungen seien "recht gut abgrenzbar", betonte Buchmayer.

Auch weitere Symptome, die im Rahmen von Long/Post Covid und ME/CFS vorkommen, seien nicht typisch für psychische Erkrankungen. Buchmayer nannte etwa Kreislaufprobleme und Herzprobleme, Lungenprobleme, grippeähnliche Symptome oder plötzlich auftretende unerklärliche Hypersensibilität für Medikamente oder Nahrungsmittel. Dies gelte auch für Probleme mit der Verdauung oder der Harnblase, ebenso für Hautbrennen oder Muskelschwäche - allesamt Symptome, die bei postakuten Infektionssyndromen auftreten können.

Um den niedergelassenen (Haus-)Ärzten, die meist erste Anlaufstelle bei derartigen Beschwerden sind, die Diagnose bei ME/CFS zu erleichtern, wurde ein Zusatz-Kapitel zum schon seit 2022 bestehenden Long Covid-"Webtool" verfasst. Das von Hoffmann und anderen Experten (u.a. der Immunologin Eva Untersmayr-Elsenhuber von der MedUni Wien und dem Neurologen Michael Stingl) erstellte Kapitel ist hier abrufbar, das Long Covid-"Webtool" hier.

Wichtig wäre es auch, ein generelles Bewusstsein für die Existenz von Syndromen wie ME/CFS in der Gesamtgesellschaft zu schaffen, betonte Psychologin Grande - aber auch in der Ärzteschaft. Denn die besten diagnostischen Tools brächten nichts, wenn sie erst gar nicht in Betracht gezogen werden. "Es bräuchte eine breite Informationskampagne wie in den 80er-Jahren zu AIDS", sagte die Psychologin, die seit Jahren Patienten mit ME/CFS in ihrer Ordination betreut. Denn auch AIDS sei lange Zeit als Minderheitenproblem kleingeredet worden, erinnert sie.

Gole und Buchmayer verwiesen auch auf die Historie bei anderen Erkrankungen wie etwa Multiple Sklerose, die lange Zeit oft als psychische Erkrankungen fehlgedeutet wurden. Auch Magengeschwüre wurden lange Zeit auf übermäßigen Stress und falsche Ernährung geschoben, bis in den 1980er-Jahren der Nachweis gelang, dass das Bakterium Helicobacter pylori die meisten Magengeschwüre und Magenkrebserkrankungen verursacht, sagte Psychologin Grande. Das Problem der korrekten Diagnosestellung betonte im APA-Gespräch auch Kevin Thonhofer, Obmann der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS: Oftmals dauere es fünf bis acht Jahre, um die richtige Diagnose zu erhalten, sagte der ehemalige Profi-Fußballer und Selbstbetroffene.

Werden psychische Fehldiagnosen gestellt, so erhalten Patienten nicht nur keine passenden Therapien, sondern "zum Teil auch falsche Therapien, die ihren Zustand verschlechtern", so Hoffmann, die Anfang März mit einem international besetzten Webinar auf das Thema ME/CFS und Post Covid aufmerksam machte (gemeinsam mit der WE&ME Foundation, der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS und Stingl).

Besonders dramatische Folgen für die Betroffenen haben Fehldiagnosen beim Vorliegen der schweren Belastungs-Erholungsstörung PEM, die in Folge einer Infektion (etwa Covid) auftreten kann und laut klinischer Konsensus-Kriterien ein "MUSS-Symptom" bei ME/CFS darstellt, so Hoffmann. PEM führt nach Aktivität bzw. Anstrengung (oft nur sehr leichter) zu einer deutlichen Verschlechterung des Gesamtzustandes - teilweise sofort, teilweise zeitverzögert, so die Experten. Post-Exertional-Malaise bedeute "viel mehr als nur Erschöpfung oder Fatigue, und muss immer zusätzlich bedacht werden", betonte Hoffmann. Auch Sinnesreize, emotionale Belastungen oder Infektionen können Auslöser (auch zusätzliche) für eine solche Verschlechterung sein.

PEM habe aber nichts mit Depression und Antriebslosigkeit zu tun, wie oft fälschlicherweise angenommen und auch diagnostiziert wird, so die Experten. Die Betroffenen hätten (anders als etwa bei einer Depression) einen normalen Antrieb und würden dazu neigen, besonders motiviert zu sein, etwa aktivierende Rehabilitationsmaßnahmen mitzutragen (die etwa bei Depressionen angezeigt und hilfreich sind). "Wenn man PEM-Betroffenen jedoch schrittweise Aktivierung verschreibt, kann das im schlimmsten Fall zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung führen - bis hin zur Bettlägerigkeit über Wochen, Monate oder dauerhaft", so Hoffmann. Leider sei dies aber nach wie vor "bei vielen Rehabilitationsaufenthalten oder saloppen Empfehlungen von Ärzten der Fall".

Aber auch bei leichteren Formen postakuter Infektionssyndrome führt die Fehldiagnose einer vermeintlich psychischen Ursache zu fatalen Konsequenzen. Als Beispiel nannte Hoffmann etwa das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), das im Rahmen von derartigen Syndromen auftreten kann. Symptome sind u.a. Herzklopfepisoden, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsprobleme. "Gerade diese Symptome werden häufig mit Angststörungen und Panikattacken verwechselt - müssten aber eigentliche mit Antihistaminika und Mastzellstabilisatoren behandelt werden, nicht mit Psychotherapie und Antidepressiva", so die Expertin.

Auch eine Dysfunktion des autonomen Nervensystems kann oft im Rahmen von ME/CFS bzw. auch von Post Covid auftreten, was zu Kreislaufproblemen insbesondere im Stehen führt (sogenanntes POTS oder eine orthostatische Hypotonie). Folge sind Symptome wie starkes Herzrasen, Herzklopfen, aber auch Übelkeit, Schwindel, Atemproblematik oder Konzentrationsprobleme. "Auch das wird ganz, ganz häufig als Stressreaktion oder Panik fehlgedeutet", so Hoffmann. Der richtige Ansatz wäre u.a., viel zu trinken, auf eine salzreiche Ernährung zu achten und Kompressionsstrümpfe zu tragen. Eine Therapie, etwa gegen eine vermeintliche Angststörung durchzuführen, bringe hingegen nichts. Grande ergänzte, dass Psychotherapie bei Angststörung sogar schade, das diese grundsätzlich aktivierende Elemente enthält.

"Daher müssten zumindest PEM, MCAS und autonome Dysfunktionen immer diagnostiziert werden", so die Expertin. Dies sei etwa bei dem Verdacht auf autonome Dysfunktion durch einen vergleichsweise einfachen sogenannten Schellongtest machbar, bei dem Herzrate und Blutdruck im Liegen und Stehen gemessen werden. "Ich sehe bei Patientinnen und Patienten eine monatelange Leidensgeschichte, die haben schon mehrere Antidepressiva", sagte Hoffmann - aber keine derartige Diagnostik durchlaufen.

Wie auch Psychiater Buchmayer verwies Hoffmann darauf, dass es für psychische Erkrankungen "ganz klare Diagnosekriterien" gibt. Nur weil die Standard-Diagnostik etwa von Blutwerten in Ordnung ist, bedeute das nicht, dass automatisch eine psychische oder psychiatrische Diagnose vorliegt, sagte sie. Auch Buchmayer betonte die Notwendigkeit der genauen Diagnostik: "Wenn ich nicht sehr präzise arbeite, bekommen die alle eine Depressionsdiagnose." Bei der Anamnese gelte es, genau hinzuschauen. So sei etwa beim alleinigen Vorliegen von POTS Training grundsätzlich gut. Liegt aber zusätzlich auch die Belastungsintoleranz (PEM) vor, so ist Überaktivierung tunlichst zu vermeiden, da dies zu Verschlechterung führt, so Hoffmann. Gole betonte, dass neben mangelndem Wissen auch der Kostenfaktor zu Fehldiagnosen führe: Denn Kassenärzte hätten schlicht zu wenig Zeit, um sich einer ausführlichen Anamnese zu widmen.

Viele auch nur mild Betroffene hätten maximal Energie für eine Stunde Spaziergang oder nur zur Bewältigung des Haushaltes - wenn überhaupt. Bei der Verordnung von Rehabilitationsmaßnahmen müsse man auch die An- und Abfahrt, Wege zu den Therapien und Speiseräumen, Gespräche und Geräusche, die allesamt Verschlechterungen bringen können, mitbedenken, so Hoffmann. Nur wenn das alles toleriert werden kann, könne eine Reha auch Nutzen bringen. Ist das nicht möglich, dann bleibt bei PEM nur übrig, Aktivität nur in jenem Ausmaß durchzuführen, das zu keiner Verschlechterung des Zustandes führt, also unterhalb der pathologisch reduzierten Belastungsgrenze zu bleiben (sogenanntes "Pacing"). Patientenvertreter Thonhofer betonte, dass eine klassische Reha kontraindiziert ist, wenn PEM vorliegt.

Gole wies auch auf die Problematik falscher Diagnosen durch Gutachter hin. Dies betreffe Anträge bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) auf Invaliditätspension oder verminderte Erwerbsfähigkeit bzw. bei Pflegegeld-Einstufungen, aber auch Probleme mit dem Bezug von AMS-Geldern, da etwa Sperren drohen, wenn Betroffene wegen ihres Zustandes Kurse nicht besuchen können. Oftmals würden bereits vorliegende, von Spezialisten erstellte, Befunde negiert und seitens der Gutachter eine psychische Diagnose gestellt mit allen Konsequenzen - etwa der Aufforderung, sich in eine für PEM-Betroffene schädliche aktivierende Rehabilitation zu begeben.

Auch in Deutschland bestehen derartige Probleme, so Grande, die auch auf die finanzielle Dimension für die Versicherungsgesellschaften verwies: "Natürlich ist es auch billiger, dem Patienten immer wieder eine psychische Diagnose zu geben und ihm zu erklären, er müsse sich nur etwas mehr anstrengen, anstatt ME/CFS als Erwerbsminderungsgrund anzuerkennen oder den Betroffenen eine Rente zu zahlen". Auch würden Betroffene finanziell belastet: Neben der eingeschränkten oder gänzlich fehlenden Arbeitsfähigkeit würden auf diese auch Kosten durch die Konsultation von spezialisierten Privatärzten und Therapien auf sie zukommen.

Gefordert sei bezüglich der Gutachter-Problematik vor allem auch das Ausbildungssystem, so Gole: "Weder in der ärztlichen noch psychologischen Ausbildung ist ME/CFS ein Thema." Auch der Ruf nach interdisziplinären Anlaufstellen für Patienten bleibt laut: Es gebe nach wie vor keine Zentren, beklagte etwa Patientenvertreter Thonhofer. Bei dem von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) angekündigten nationalen Referenzzentrum für postinfektiöse Erkrankungen komme es darauf an, wie dieses personell besetzt werden wird und inwieweit dort ME/CFS und PEM ein Thema sein wird, sagte er.

Dazu, dass bis dato für ME/CFS bzw. Post Covid nicht ein einzelner klar zu bestimmender Biomarker vorliegt, was eben oft zur Fehleinschätzung einer psychischen Ursache führt, liegt laut den Experten daran, dass es sich bei postakuten Infektionssyndromen um komplexe Prozesse handelt. Immer klarer werde, dass dies mit der Immunreaktion zusammenhängen dürfte, die Blutgefäße mitbetroffen sind, ebenso dürfte die Ablagerung von Amyloid (Eiweiß) eine Rolle spielen. Auch die Mitochondrien (Kraftwerke der Zellen) sind laut aktuellem Forschungsstand bei diesen Problemen beeinträchtigt, so Hoffmann. Sie verwies darauf, dass es ja auch bei Krebserkrankungen nicht "den einen" Biomarker gibt. "Genauso wird es auch bei ME/CFS unterschiedliche Biomarker geben." Als Beispiel verwies die Expertin auf eine Studie der MedUni Wien, laut derer Menschen mit Immundefekt und ME/CFS andere Marker aufweisen als Menschen ohne Immundefekt sowie auf eine aktuelle Preprint-Studie aus dem Jahr 2024, die zeigt, dass auch bei Frauen und Männern unterschiedliche Immunmarker wichtig sein könnten.

ribbon Zusammenfassung
  • Experten warnen vor der Fehleinordnung von Long/Post Covid und ME/CFS als psychische Erkrankungen, was adäquate Behandlungen verhindert und zu Schäden führen kann.
  • Hauptproblem ist die Verwechslung spezifischer Symptome wie der belastungsinduzierten Verschlechterung (PEM) mit psychischen Leiden, obwohl diese klar abgrenzbar sind.
  • Ein zusätzliches Kapitel zum Long Covid-Webtool wurde veröffentlicht, um die Diagnose von ME/CFS zu erleichtern, abrufbar unter https://go.apa.at/p6ljH8Pk.
  • Es besteht ein dringender Bedarf an einer breiten Informationskampagne und einer verbesserten Ausbildung der Ärzteschaft, um das Bewusstsein für ME/CFS zu schärfen.
  • Fehldiagnosen führen oft zu falschen Therapien, die den Zustand von Patienten verschlechtern können, anstatt sie zu verbessern.