APA/dpa/Jonas Walzberg

Verhandeln mit Geiselnehmern: "Lügen ist verboten"

Über 18 Stunden verhandelte die Hamburger Polizei am vergangenen Wochenende mit einem Mann, der mit seiner Tochter als Geisel auf das Rollfeld des Flughafens fuhr. Wie geht man in so einer Situation vor? Wie baut man Vertrauen auf und wie lange müssen Polizei-Verhandler durchhalten? PULS 24 hat beim Bundeskriminalamt nachgefragt.

Schüsse fielen, Brandsätze flogen. Ein Mann krachte am vergangenen Samstag mit seinem Auto auf das Rollfeld des Hamburger Flughafens. Seinen Audi parkte der Mann unter einem Flieger der Turkish Airlines. 

Hintergrund war ein Sorgerechtsstreit - der Mann hatte seine Tochter dabei. Über 18 Stunden saßen die beiden im Auto, umstellt von der Polizei, die zum Schutz des vierjährigen Kindes eine gewaltsame Lösung nie aufgab. 

Die Situation nahm ein glimpfliches Ende - nach 18 Stunden stieg der Mann am Sonntag aus dem Pkw. Er gab auf, ließ sich widerstandslos festnehmen. Die Tochter ist mittlerweile wieder bei der Mutter, der Mann in Untersuchungshaft

"Straßenpolizistin" verhandelte

Für die Hamburger Polizei ist es ein großer Erfolg, eine solche Geiselnahme gewaltfrei beendet zu haben. Mitverantwortlich für den Erfolg laut Recherchen von "Zeit" und "NDR" eine "Straßenpolizistin". Sie meldete sich an dem Abend freiwillig. Die Polizei suchte nach jemandem, der Türkisch spricht.

Über 16 Stunden - mit Unterbrechungen - soll sie letzten Endes mit dem mutmaßlichen Geiselnehmer telefoniert haben. Beraten wurde sie dabei von der Verhandlungsgruppe, einem Team aus Psycholog:innen sowie Spezialist:innen für Geiselnahmen.

Auch im österreichischen Bundeskriminalamt gibt es solche Teams seit den späten 1980er Jahren. Leiterin der "Kriminalpsychologie und Verhandlungsgruppen" ist Nicole Lang. Sie studierte Psychologie und Rechtswissenschaften. Gegenüber PULS 24 schilderte sie, worauf es in Situationen wie jener in Hamburg ankommt. 

175 Einsätze 

Wird die Verhandlungsgruppe gerufen, so ist die Person, mit der es die Polizei zu tun hat "oft in einem Ausnahmezustand", sagt sie. "Das emotionale Gleichgewicht des Täters ist aus den Fugen geraten". 175 Mal wurden die Verhandlungsgruppen im Jahr 2022 zu Einsätzen in Österreich gerufen.

Bei 50 bis 60 Prozent der Einsätze würde es um Suizidlagen gehen, sagt Lang. Die restlichen Einsätze würden sich auf "Verbarrikadierungslagen, sonstige Gefährdungslagen und Geisellagen" aufteilen. 

Oberstes Ziel bei diesen Einsätzen sei es, "auf eine gewaltfreie Bewältigung dieser Situation hinzuarbeiten, die Gefahr für alle Beteiligten zu reduzieren und Spannungen des Täters abzubauen". 

Die besondere Herausforderung bei den Einsätzen der Verhandlungsgruppen: Es gebe ein "Übergewicht an hochemotionalen Verhaltensweisen des Täters", wie Nicole Lang schildert. Das Gegenüber habe sein "stabiles Gleichgewicht verloren, erlebt höchste Gefühlsausbrüche und seine normalen psychologischen und biologischen Bewältigungsmechanismen sind aufgehoben". 

Die Verhandlungsgruppen zeichne aus, für das Gegenüber ein Ansprechpartner bei der Polizei zu sein, der "anstatt mit Zwangsmaßnahmen einzuschreiten, versucht, durch Gespräche eine friedliche Lösung herbeizuführen". 

"Weg der kleinen Schritte"

Wie kann das in solchen Ausnahmesituationen gelingen? Das kann die Leiterin der "Kriminalpsychologie und Verhandlungsgruppen" nicht pauschal beantworten: Jeder Einsatz sei "unterschiedlich gestaltet". Verhandeln sei "kein starres System" - jede Person habe andere Bedürfnisse, eine andere Persönlichkeit. Die Verhandler müssen flexibel sein und Methoden und Taktiken adaptieren. 

Erst wenn man die Beweggründe eines Täters kennt, kann man mit ihm über Lösungsansätze sprechen

Nicole Lang

Lang ist es wichtig, zu betonen, dass das Ziel nicht sei, den Täter zu überlisten oder psychisch zu zermürben. Man setze auf einen "Weg der kleinen Schritte". Ziel sei es, eine "kommunikative Vertrauensbasis aufzubauen" und einen Konsens mit dem Täter herzustellen, wie der Einsatz "zum Vorteil aller Beteiligten - am besten gewaltfrei beendet werden kann". 

"Spezielle Gesprächstaktiken"

Zunächst sei es dafür wichtig, Spannung abzubauen - mit "speziellen Gesprächstaktiken" wolle man "Deeskalation" erreichen. Dafür sei Vertrauen und gegenseitige Akzeptanz wichtig, sagt die Chefin der Verhandlungsgruppen.

"Erst wenn man die Beweggründe eines Täters kennt, kann man mit ihm über Lösungsansätze sprechen. Wenn der Täter erkennt, dass man ihn ernst nimmt und nicht hintergehen will, ist der erste wichtige Baustein für eine erfolgreiche Verhandlung gelegt".

Lügen ist verboten, denn das ist ein enormer Vertrauensbruch

Nicole Lang

Ob die Verhandler Versprechen und Zusagen - etwa für Lösegeld oder Straffreiheit - machen dürfen und ob solche Versprechen eingehalten werden müssen, will Lang "aus einsatztaktischen Gründen" nicht verraten. Generell gelte bei Verhandlungen aber: "Lügen ist verboten, denn das ist ein enormer Vertrauensbruch."

Wechsel nach zehn Stunden

Im Schnitt würden solche Verhandlungen "mehrere Stunden" dauern, sagt Lang. In Österreich würde in der Regel aber "nach circa zehn Stunden" eine Verhandlungsgruppe durch eine andere ausgetauscht werden. 

Den einen spektakulärsten Fall gibt es für Lang nicht, wie sie zu PULS 24 sagt, "da jeder Einsatz etwas besonders ist, jedes Gegenüber individuell und jede Geschichte einzigartig". Aber: "Die besten Einsätze sind jene, die für beide Seiten gewaltfrei gelöst werden konnten." So wie der Fall in Hamburg. 

ribbon Zusammenfassung
  • Über 18 Stunden verhandelte die Hamburger Polizei am vergangenen Wochenende mit einem Mann, der mit seiner Tochter als Geisel auf das Rollfeld des Flughafens fuhr.
  • Auch im österreichischen Bundeskriminalamt gibt es solche Teams seit den späten 1980er Jahren. Leiterin der "Kriminalpsychologie und Verhandlungsgruppen" ist Nicole Lang.
  • Oberstes Ziel  bei diesen Einsätzen sei es, "auf eine gewaltfreie Bewältigung dieser Situation hinzuarbeiten, die Gefahr für alle Beteiligten zu reduzieren und Spannungen des Täters abzubauen". 
  • Lang ist es wichtig, zu betonen, dass das Ziel nicht sei, den Täter zu überlisten oder psychisch zu zermürben.
  • Ob die Verhandler Versprechen und Zusagen - etwa für Lösegeld oder Straffreiheit - machen dürfen und ob solche Versprechen eingehalten werden müssen, will Lang "aus einsatztaktischen Gründen" nicht verraten.
  • Generell gelte bei Verhandlungen aber: "Lügen ist verboten, denn das ist ein enormer Vertrauensbruch".