Generation Gewalt: Revierkämpfe um Handelskai und Praterstern

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Der Wiener Handelskai und das Einkaufszentrum Millennium City, aber auch der Wiener Praterstern sind immer wieder in den Schlagzeilen. Gruppen von Jugendlichen sorgen dort immer wieder für Unruhe. Was ist dort los und wie versucht man, die Lage in den Griff zu bekommen? PULS 24 hat sich vor Ort umgesehen.

Panik in der Millennium City. Ein 19-Jähriger zückt ein Messer, bedroht damit zwei etwa Ältere, die in Richtung des Einkaufszentrums am Wiener Handelskai flüchteten. Pfefferspray ist im Spiel, es fliegen Steine. Passanten wollen sogar Schüsse gehört haben, doch die Polizei fand später keine Tatwaffe.

Was war passiert? So genau weiß man das nicht. Ein Streit dürfte eskaliert sein, hieß es nur. Die Beteiligten wurden vorübergehend festgenommen.

Am Freitagabend, rund eine Woche nach den Vorkommnissen, hat sich die Lage zwar beruhigt, doch die Stimmung am Handelskai in Wien-Brigittenau ist immer noch angespannt. Polizisten bestreifen das Areal ums Shopping-Center verstärkt, gezielt kontrollieren sie die zahlreichen Gruppen von jungen Männern, die hier unterwegs sind. Viele von ihnen haben Migrationsgeschichte. 

Hört man sich unter den Jugendlichen am Handelskai um, so meinen diese bei einem PULS 24 Lokalaugenschein, dass es bei den Konflikten um ethnische Konflikte beziehungsweise um eine Art von Revierkämpfen gehe. "Diese Araber machen uns hier sehr viele Probleme", sagt einer. Gegen "kleine Jungen" seien schon Messer "ausgepackt" worden, schildert ein anderer. Sie erzählen von bis zu 60 Leuten, die mit Baseballschlägern kommen würden. Das sei auch an besagtem Sonntag passiert.  

"Wir führen Handelskai, wir schützen Handelskai"

Die Gruppe ist sich einig: Der Handelskai sei in der Hand der Tschetschenen. "Das ist unser Platz hier", sagt einer und ein anderer ergänzt: "Wir sind hier in der Mehrheit, wir führen Handelskai, wir schützen Handelskai".

Wie ernst der Gruppe ihre eigenen Aussagen sind, ist schwer zu sagen. Fakt ist: Der Polizei vertrauen die Jungs bei Auseinandersetzungen nicht. "Die kommen immer zu spät - 20, 30 Minuten. Am Sonntag war das das Gleiche", sagt einer. "Die schützen und nicht, die kommen nicht schnell, die wollen nur die Ausländer rausbringen", sagt ein anderer.

Waffen will die Gruppe nicht dabeigehabt haben, Konflikte mit dem Strafgesetz hatte dennoch der ein oder andere von ihnen. Sie sprechen von Körperverletzung, Diebstahl, Raub - sogar Waffenhandel. Einer will eine muslimische Frau beschützt haben - "vor einem dreckigen Kafir (Ungläubigen, Anm.)". 

Der Handelskai geriet in den vergangenen Jahren immer wieder in die Schlagzeilen. So kam es dort auch zu Vorfällen, in denen selbsternannte "Sittenwächter" Frauen attackierten, weil ihnen diese nicht passend gekleidet erschienen.

Mehr Anzeigen

Es ist aber nicht nur das Areal um die Millennium City: Während die Gesamtkriminalität laut der Anzeigenstatistik über die Jahre tendenziell sinkt, steigt die Zahl der sehr jungen Tatverdächtigen leicht an, besonders die der Unter-14-Jährigen. Waren es 2013 noch 5.587 Tatverdächtige unter 14, ist die Zahl bis 2022 auf 10.428 angestiegen. 

Für den Anstieg kann es verschiedene Gründe geben. Lehrkräfte und Eltern wurden in den vergangenen Jahren sensibilisiert, auch Anzeigen zu erstatten, heißt es vom Bundeskriminalamt gegenüber PULS 24. Mehr Anzeigen müssten nicht unbedingt mehr Straftaten bedeuten. Außerdem kam das Internet hinzu - und damit auch Anzeigen wegen Cybermobbing, Nacktaufnahmen oder Drohungen.

Teuerung und Corona drängten die Jugendlichen zudem verstärkt in den öffentlichen Raum. Anziehungspunkt sind vor allem Parks, Einkaufszentren oder Bahnhöfe. Also überall dort, wo man sich konsumfrei aufhalten kann.

Drogen-Umschlagplatz Praterstern

So etwa auch der Wiener Praterstern, ein Bahnhof mit Einkaufsmöglichkeiten. Beim PULS 24 Lokalaugenschein durchsucht die Polizei auch dort gerade drei junge Männer. Der Praterstern gilt mit seiner Umgebung schon länger als Drogen-Umschlagplatz. 

"Afghanenstern", nennt man den Verkehrsknotenpunkt unter Jugendlichen. Offenbar gibt es hier ebenfalls eine klare Platz-Aufteilung. Bei den österreichischen Bundesbahnen kennt man das Problem mit kriminellen Vorkommnissen rund um den Bahnhof. Um dem entgegenzuwirken, hat man über die Jahre ein umfangreiches Sicherheitspaket zusammengestellt.

"Unsere Security-Mitarbeiter sind dafür zuständig, hier das Hausrecht durchzusetzen. Aber unser Einflussbereich endet andererseits auch bei den Bahnhofstüren und darüber hinaus sind eben andere Verantwortungsträger zuständig", sagt ÖBB-Sprecher Daniel Pinka. Eine Kooperation von ÖBB-Security, Polizei und Sozialarbeitern sowie ein Maßnahmenbündel sei wichtig. Am Stern wurde schon vor Jahren ein Alkoholverbot und eine Waffenverbotszone verhängt. 

Kommt das nun auch in der Millennium-City? Die Geschäftsleute scheinen es sich zumindest zu wünschen. Sie erzählen von Einbrüchen, Diebstählen und Raufereien, teils direkt vor den Geschäften. "Ich habe schon Angst, als Frau fühlt man sich nicht mehr sicher", sagt etwa Regina S., die seit 20 Jahren in dem Einkaufszentrum arbeitet.

Ich habe schon Angst, als Frau fühlt man sich nicht mehr sicher.

Verkäuferin Regina S.

Sie habe beobachtet, wie eine Polizistin bespuckt worden sei. Als sie einem Jugendlichen keine Zigarette geben wollte, sei sie mit einer Waffe bedroht worden. Es sei zwar nur eine Attrappe gewesen - erschrocken habe sie sich dennoch. 

"Nicht den Kopf in den Sand stecken"

"Das letzte, was man jetzt braucht, ist eine Vogelstrauß-Politik", sagt Stefan Ratzenberger, Sprecher der Millennium City. Man könne jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass nichts mehr passiert. "Das wissen wir alle - das wird nicht der Fall sein". Man will alle Player an einen Tisch holen. 

Einer dieser Player ist die Stadt Wien. Aus dem Büro von Bildungs- und Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS) heißt es auf PULS 24 Anfrage zu den Vorfällen: "Die Millennium City ist ein besonderer Ort: ein überregionaler Bahnhof mit Spiel- und auch Nachtlokalen. Unsere Jugendarbeiter*innen sind auch mit den Betreibern der Millennium City in engem Kontakt. Aktuell nach den Vorfällen wurde die offene und mobile Jugendarbeit verstärkt und die Jugendarbeiter*innen sind noch mehr im Austausch mit der Grätzlpolizei."

Die Sozialarbeit spielt hier eine entscheidende Rolle, vor allem die mobile Sozialarbeit rund um den Verein "Back Bone". Steetworker treten an die jungen Leute heran, treffen sie dort, wo sie sich gerne aufhalten und haben stets ein offenes Ohr für die jungen Menschen. 

Mein Wunsch wäre, dass wir uns alle wieder einmal in Erinnerung rufen, wie es uns gegangen ist, als wir junge Menschen waren.

Sozialarbeiter Christian Lengyel-Wiesinger

"Es gibt ganz viele Jugendliche, mit denen wir in Parks Kontakt haben, wo es um Alltagsbewältigung geht, wo es auch einfach mal darum geht, ablästern zu können, was in der Schule nicht passt", schildert Christian Lengyel-Wiesinger, Sozialarbeiter bei Back Bone im Gespräch mit PULS 24.

"Mein Wunsch wäre, dass wir uns alle wieder einmal in Erinnerung rufen, wie es uns gegangen ist, als wir junge Menschen waren - und da vielleicht ein bisschen - ohne jetzt Delinquenz legitimieren oder rechtfertigen zu wollen - mehr Verständnis für junge Menschen, die sich in dieser Lebenszeit befinden, seitens der Gesellschaft aufzubringen", sagt er. 

"Nicht respektlos reden"

In einem Park in der Nähe der Millennium City traf PULs 24 Abbas (Name von der Redaktion geändert). Der 25-Jährige hängt auch gerne am Handelskai ab. Er ist mehrfach vorbestraft, war sogar im Gefängnis. Schon mit 14 Jahren habe er einen schweren Raubüberfall begangen, erzählt er. "Wir wollten unsere Späße haben, wir wollen immer feiern gehen, wir wollten alles machen - und natürlich unsere Drogen kaufen und weiterverkaufen", sagt er. 

Seit zwei Jahren nehme er nun keine Drogen mehr und wolle mit der Polizei nichts mehr zu tun haben. Seine Zeit im Gefängnis sei schlimm gewesen. An seine jungen Kollegen am Handelskai hat er deshalb eine Botschaft: "Mit guten Leuten treffen, die nicht Blödsinn machen, die nicht kiffen, keine Drogen nehmen und natürlich nicht respektlos reden."

Teddybär statt Waffe

Die Polizeikontrollen beim Einkaufszentrum gehen unterdessen weiter. Wieder werden hauptsächlich junge Männer mit Migrationsgeschichte angehalten. Ausweise werden kontrolliert, ihre Körper abgetastet.

Die Jugendlichen seien das gewohnt, meinen sie, angenehm finden sie das aber nicht. Schuld seien die schwarzen Umhängetaschen, die viele dabei hätten, meint ein Jugendlicher. Die Polizei glaube, darin befinden sich Waffen - er zieht gegenüber PULS 24 aber einen Teddybären heraus. 

Und tatsächlich: Von der Wiener Polizei heißt es, dass an diesem Abend bei der Schwerpunktkontrolle nichts gefunden worden sei, es habe keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Zumindest dieses Mal nicht. 

ribbon Zusammenfassung
  • Der Wiener Handelskai und das Einkaufszentrum Millennium City, aber auch der Wiener Praterstern sind immer wieder in den Schlagzeilen.
  • Gruppen von Jugendlichen sorgen dort immer wieder für Unruhe.
  • Was ist dort los und wie versucht man, die Lage in den griff zu bekommen? PULS 24 hat sich vor Ort umgesehen.

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