Zahl illegaler Bootsflüchtlinge auf den Kanaren bricht ein
Für Spanien und die Europäische Union spielt der Staat im nordwestlichen Afrika eine zentrale Rolle bei der Kontrolle illegaler Migrationsströme auf der sogenannten Atlantikroute. So besuchte Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez die mauretanischen Hauptstadt Nouakchott gleich drei Mal in den vergangenen eineinhalb Jahren - zuletzt vor zwei Wochen, um eine "geordnete, sichere und reguläre" Einwanderung zu fördern.
Schon als im vergangenen Jahr die Rekordzahl von rund 46.000 afrikanischen Bootsflüchtlinge die Kanarischen Inseln erreichten, besuchte Sánchez den Senegal, Gambia und Mauretanien. "Migration ist kein Problem, sondern eine Notwendigkeit", sagte Sánchez auf seiner Afrikareise. "Um unseren Wohlfahrtsstaat aufrechterhalten zu können, sind wir auf Migration angewiesen". Mit besonderen Visa-Programmen können seitdem Menschen aus diesen afrikanischen Staaten geregelt und zeitlich begrenzt nach Spanien einwandern, um dort zu arbeiten.
Natürlich forderte Sánchez von diesen Ländern aber vor allem ein härtestes Vorgehen gegen Schlepperbanden. Mauretanien selber ist seit Jahren einem beispiellosen Migrationsdruck ausgesetzt. Allein im Flüchtlingslager Mberra leben derzeit 200.000 Menschen aus dem Nachbarland Mali, die vor der Gewalt in ihrem Land fliehen, in dem sich die Regierungstruppen von Putsch-General Assimi Goita mit Tuareg-Rebellen und Jihadisten bekämpfen. Aber auch Flüchtlinge aus dem Senegal und Gambia versuchen immer häufiger von Mauretanien aus die Kanaren und damit Europa zu erreichen.
Aus diesem Grund boten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Spaniens Premier Sánchez Mauretanien vergangenes Jahr Investitionen in Höhe von rund 500 Millionen Euro an. Im Gegenzug erwarteten Brüssel und Madrid eine engere Zusammenarbeit bei der Zerschlagung von Menschenhändlerorganisationen und strengere Kontrollen der Seewege. Anscheinend mit Erfolg, wie der drastische Rückgang der Bootsflüchtlinge auf den Kanaren zeigt. Allein zwischen Jänner und April haben die mauretanischen Behörden eigenen Angaben zufolge 30.000 Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus aufgegriffen. Tausende von ihnen wurden nach Mali oder Senegal abgeschoben, weitere Tausende in Internierungslager gebracht.
Migrationsexperten sehen keine langfristige Lösung
Doch für Migrationsexperten ist das weder eine langfristige Lösung noch bedeutet die aktuell rückläufige Zahl afrikanischer Bootsflüchtlinge auf den Kanaren eine Kehrtwende für Spanien. "Die Menschen suchen sich alternative Routen, wenn ein Weg versperrt wird", erklärt Lidia Hernández von der spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (CEAR). "Die illegale Migration nimmt nicht ab, sie verlagert sich nur", gibt Hernández im Gespräch mit der APA zu bedenken.
Sie erinnert an den Fall Marokko: Nachdem Spanien Anfang 2023 nach zahlreichen diplomatischen Spannungen die marokkanischen Ansprüche auf die von Rabat besetzte Westsahara zu weiten Teilen anerkannte, nahm Marokko erneut die Kontrolle seiner Grenzen auf - vor allem zu den beiden spanischen Nordafrika-Exklaven Ceuta und Melilla. Damals verschoben sich ebenfalls die Migrationsroute auf die Kanaren. Und zwar weiter nach Süden, in den Senegal, nach Gambia und ab vergangenem Jahr nach Mauretanien.
"Wiederbelebung der Balearen-Route"
Nun scheinen die aktiveren Grenzkontrollen Mauretaniens vor allem die Balearen-Route von Algerien wiederzubeleben, meint Lidia Hernández von der CEAR. Die jüngsten Daten des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR geben ihr Recht: Zwischen Jänner und Juli kamen 3.482 Migranten auf 182 Booten aus Algerien auf den Balearen an, was einem Anstieg von 124 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, wird die Gesamtzahl der auf dem Seeweg auf den Balearen ankommenden Menschen bis Ende 2025 bei fast 13.200 liegen.
Auch die Versuche, die spanische Nordafrika-Exklave Melilla in Marokko zu erreichen, nahmen seit Jänner über den Seeweg um 150 Prozent und an der EU-Landgrenze zu 302,7 Prozent zu. Das Problem: Solange die Gründe der illegalen Migration wie bewaffnete Konflikte, Klimawandel oder Hungersnöte nicht verschwinden, werden die Menschen weiter nach Wegen in Länder suchen, die ihnen eine bessere und sichere Zukunft versprechen, meint José Antonio Rodríguez Verona.
"Humanitäre Notlage noch längst nicht beendet"
Der Verantwortliche des Roten Kreuzes für die Betreuung von Migranten auf den Kanarischen Inseln gibt zu bedenken, dass die humanitäre Notlage auf den Inseln trotz der rückläufigen Zahlen noch längst nicht beendet ist. Im Gegenteil: Mit Blick auf die Herbststürme erwartet Rodríguez vor allem im September eine erneute Zunahme von afrikanischen Bootsflüchtlingen.
Der Seeweg von Westafrika zu den Kanaren gilt als eine der gefährlichsten Flüchtlingsrouten der Welt. Nach Angaben der angesehenen und in Afrika gut vernetzten spanischen Hilfsorganisation "Caminando Fronteras" sind 2024 mindestens 9.757 Migranten beim Versuch gestorben, die Kanaren zu erreichen.
(Von Manuel Meyer/APA)
Zusammenfassung
- Die Zahl der illegalen Bootsflüchtlinge auf den Kanarischen Inseln ist in den ersten sieben Monaten 2025 um 46,1 Prozent auf 11.575 gesunken.
- Als Hauptgrund für den Rückgang gelten verschärfte Grenzkontrollen in Mauretanien, unterstützt durch 500 Millionen Euro Investitionen von EU und Spanien.
- Mauretanische Behörden griffen zwischen Jänner und April 2025 rund 30.000 Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus auf und schoben Tausende ab.
- Migrationsexperten warnen, dass sich die Migration lediglich auf andere Routen wie die Balearen verlagert: Dort stieg die Zahl der Ankünfte auf 3.482 (+124 Prozent).
- Trotz des Rückgangs auf den Kanaren bleibt die humanitäre Notlage bestehen: 2024 starben mindestens 9.757 Menschen beim Versuch, die Inseln zu erreichen.