APA/APA/BELGA/HATIM KAGHAT

Ukrainische Geflüchtete vertrauen EU mehr als Österreicher

Heute, 07:01 · Lesedauer 4 min

Nach Österreich geflüchtete Ukrainer haben liberalere Ansichten zu Geschlechterrollen als die Bevölkerung in ihrer alten Heimat, sind bei diesem Thema aber konservativer als die Österreicher. Dagegen übertrifft ihr Vertrauen in die EU jenes der Österreicher bei weitem, zeigt eine im Fachjournal "Genus" veröffentlichte Studie von ÖAW und WU Wien. Darin wurden Einstellungen und Werthaltungen der nach dem russischen Angriffskrieg nach Österreich geflüchteten Ukrainer untersucht.

"Die Wahrnehmung kultureller Unterschiede zwischen Flüchtlingsbevölkerungen und Aufnahmegesellschaften ist zentral für politische Integrationsdebatten", schreibt das Team um Bernhard Riederer vom Institut für Demografie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in seiner Arbeit. Um zu klären, wie die geflüchteten Ukrainer zu Demokratie und internationalen Institutionen stehen und wie liberal bzw. traditionell sie die Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft sehen, wurden drei Datensätze ausgewertet: eine Befragung unter ukrainischen Geflüchteten in Österreich aus 2022, der World Values Survey für die Ukraine von 2020 sowie die European Values Study für Österreich von 2018.

In ihrer Einstellung zu Geschlechterrollen sind die Geflüchteten liberaler als die Bevölkerung in ihrer alten Heimat, allerdings konservativer als die Aufnahmegesellschaft: Während 45 Prozent der Österreicher der Aussage "Wenn Arbeitsplätze knapp sind, sollten Männer mehr Rechte auf einen Arbeitsplatz haben als Frauen" vehement widersprechen, tun dies 23 Prozent der Geflüchteten und elf Prozent der ukrainischen Bevölkerung.

Ähnliche Muster zeigen sich bei der Einstellung zur Aussage "Männer sind bessere Führungskräfte als Frauen". Das lehnen 58 Prozent der Österreicher vehement ab, 24 Prozent der Geflüchteten und zwölf Prozent der Ukrainer.

Das Forschungsteam vermutet hinter diesen Einstellungsunterschieden Faktoren wie Alter, Bildung und Familienstand: "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Geflüchteten eine soziodemografisch ausgewählte Gruppe darstellen - meist jünger, besser gebildet und häufiger kinderlos - und deshalb liberaler eingestellt sind als die Durchschnittsbevölkerung ihres Herkunftslandes", erklärte Riederer in einer Aussendung.

Positive Einstellung zur Demokratie

Wenn es um die Bewertung der Demokratie geht, stimmt - im Gegensatz zum Thema Geschlechterrollen - das Antwortverhalten der in Österreich angekommenen Ukrainer weitgehend mit jenem der Bevölkerung in der Ukraine überein: In der Befragung 2020 bewerteten 69 Prozent der Ukrainer Demokratie positiv, bei den Geflüchteten waren es 82 Prozent. Höher ist die Zustimmung der Österreicher mit 94 Prozent.

Als "bemerkenswert" werten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter das Vertrauen in die Europäische Union unter den in Österreich angekommenen Ukrainern: Über 90 Prozent gaben an, "sehr viel" oder "ziemlich viel" Vertrauen in die EU zu haben, verglichen mit 46 Prozent in der ukrainischen Bevölkerung und nur 41 Prozent in der österreichischen Bevölkerung. Darüber hinaus gaben fast 70 Prozent der ukrainischen Geflüchteten an, großes Vertrauen in die NATO zu haben. 2020, also vor dem russischen Angriffskrieg, äußerte nur ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung ein so starkes Vertrauen in das westliche Verteidigungsbündnis.

Diese Befunde bleiben auch dann stabil, wenn Merkmale wie Bildung, Einkommen oder Alter berücksichtigt werden. "Offenbar spielen hier weniger strukturelle Faktoren eine Rolle, sondern vielmehr die prägenden Erfahrungen des Krieges und die internationale Unterstützung, die die Ukraine seit 2022 erfährt", so Co-Autorin Isabella Buber-Ennser von der ÖAW.

Unterstützung für Demokratisierungsprozess

Für Co-Autorin Judith Kohlenberger vom Forschungsinstitut für Migrations- und Fluchtforschung und -management (FORM) der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien könnte besonders die ausgeprägte pro-europäische Haltung der ukrainischen Geflüchteten "langfristig nicht nur die Integration in Österreich erleichtern, sondern auch den Demokratisierungsprozess in der Ukraine unterstützen". Sie verweist auf eine erneute Befragung ukrainischer Geflüchteter im Sommer 2025, wonach das Vertrauen in die EU zwar um wenige Prozentpunkte zurückgegangen, aber dennoch weiterhin sehr hoch sei.

Das Forschungsteam betont in der Arbeit auch die wichtige Rolle vertriebener Gemeinschaften bei der Demokratisierung ihrer Herkunftsländer: Sie würden Normen und Einstellungen, die sie in ihren demokratischeren Gastländern übernommen haben, über Rückkehr, Kommunikation sowie Flüchtlings- und Migrantennetzwerke in ihre Heimatländer übertragen. "Ukrainische Flüchtlinge mit ihrer ausgeprägten pro-europäischen Haltung können ihrem Heimatland auf dem Weg in die Europäische Union erheblich helfen", heißt es in der Arbeit.

(S E R V I C E - Internet: https://doi.org/10.1186/s41118-024-00230-3)

Zusammenfassung
  • Das Vertrauen in die EU ist bei den ukrainischen Geflüchteten mit über 90 Prozent deutlich höher als bei der österreichischen Bevölkerung (41 Prozent) und der ukrainischen Bevölkerung (46 Prozent).
  • 82 Prozent der ukrainischen Geflüchteten bewerten die Demokratie positiv, während es bei den Österreichern 94 Prozent und bei den Ukrainern 69 Prozent sind.