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Schallenberg fordert mehr Mut Europas zur Disruption

Heute, 05:20 · Lesedauer 4 min

"In der Politik ist es oft wahnsinnig schwierig, Menschen auf Wandel vorzubereiten, wenn sie ihn noch nicht spüren." Das Wichtigste für Europa sei ein "Change of Mindset", so Alexander Schallenberg im "Cicero"-Videointerview. Auf die Frage von Chefredakteur Alexander Marguier in Anspielung auf Argentinas ultraliberalen Präsidenten Javier Milei, ob mehr Mut zur "Milei'schen Kettensäge" gebraucht werde, sagte der Ex-Kanzler: "Eine kurze, provokante Antwort wäre: Ja, absolut!"

Er habe eine gewisse Sympathie für disruptive Zugänge, denn "wir haben ja nichts anderes erlebt in den vergangenen sechs Jahren. Ich war sechs Jahre lang nur im Krisenbekämpfungsmodus." Er würde vielleicht keine Motorsäge nehmen, da "wir Rechtsstaaten" seien, aber man müsse schon schauen, wo "Fett angesetzt" worden sei, wo es Redundanzen gebe und wo ein neuer Kurs gefahren werden müsse. "Ich bin zuversichtlich, dass die Stimmung in diese Richtung geht, auch gerade aus wirtschaftlichen Zwängen heraus", meinte Schallenberg gegenüber dem deutschen Monatsmagazin weiter.

"Wir Europäer müssen realisieren, dass der Urlaub der Geschichte vorbei ist", betonte Schallenberg. Es wurde gedacht, es würde nie Kriege, Pandemien, wirtschaftliche Probleme geben, die Geschichte hätten wir hinter uns gelassen, so der frühere Diplomat. "Wir brauchen keine Umstürze mehr, wir brauchen keine Revolutionen mehr. Eigentlich können wir genauso weitermachen, es wird immer besser, immer schöner. Das große Thema ist Dekarbonisierung, und dann haben wir eigentlich alles gemacht, was notwendig ist", erklärte Schallenberg die gängige Denkweise der Europäer.

Der Erste, der uns das wissen ließ, dass diese Zeit vorbei sei, sei der frühere US-Präsident Barack Obama gewesen - "nur tat er es in sehr höflicher Form", so Schallenberg. "Im Grunde haben alle dasselbe gesagt, immer wieder, stets freundlich. Doch wir entschieden uns, nicht wirklich hinzuhören - bis (der jetzige US-Präsident Donald) Trump kam und es uns unverblümt ins Gesicht schleuderte", sagte Schallenberg.

Kontinent der Untergangspropheten

Er habe oft den Eindruck, dass "der Europäer in einem Kontinent der Untergangspropheten lebt". "Und in dieser Disziplin streben wir Österreicher zuverlässig einen Stockerlplatz an. Mit den Deutschen, so fürchte ich, liefern wir uns dabei regelmäßig ein Foto-Finish."

"Wenn dein Job in Frage steht, du Angst hast um deine physische Unversehrtheit, deine Sicherheit, weil Krieg zurückgekehrt ist, ist vielleicht das Thema Mülltrennen (...) das Falsche", formulierte Schallenberg. "Und wir haben uns vielleicht als Gesellschaft viel zu sehr mit der Kirsche am Kuchen beschäftigt. Minderheitenschutz. Die Frage ist: Jetzt haben wir einen Kuchen. Haben wir in 20 Jahren noch einen Kuchen?"

Migration als Treiber des Populismus

Die Migration bezeichnete Schallenberg als "Treiber des Populismus". Österreich sei während der Migrationskrise das "Schmuddelkind" gewesen, weil "wir gemerkt haben, es geht sich einfach nicht aus". 2015 habe es den völligen Einbruch der staatlichen Kontrolle gegeben, weil nicht mehr nachvollzogen werden konnte, wer eigentlich ins eigene Staatsgebiet komme. Er sei froh, dass sich der Diskurs in Deutschland zum Thema Migration massiv gewandelt habe, obwohl er noch immer nicht dort sei, wo er eigentlich sein sollte, sagte der Ex-Außenminister.

Deutsche Medien hätten gewisse Themen nicht angesprochen, die Diskussion sei an der Realität vorbei geführt worden. Die Migration sei ein "Betroffenheitsthema". "Es sind einige Staaten betroffen, meistens immer dieselben, alle anderen sind Zuschauer." Österreich sei seit zehn Jahren immer die Nummer eins bei Asylgesuchen in Kontinentaleuropa, nur Zypern sei höher. Die Zahlen müssten in Relation zur Bevölkerungsgröße gesehen werden, nicht in absoluten, wie das gerne von europäischen Medien gemacht werde.

Die Migrationswelle vor zehn Jahren könne nicht mit jenen Einwanderungswellen nach Österreich davor - etwa Ungarn, Tschechen und Bosniaken - verglichen werden, da es sich dabei um Menschen aus ähnlichen Kulturkreisen gehandelt habe. Das sei 2015 und danach völlig anders gewesen, sagte Schallenberg. "Wir merken das heute noch, dass wir ein massives Problem haben, wie wir diese Menschen in Gesellschaft integrieren können."

Keine Bürgerkriegsgefahr

Bezüglich der USA und der Gefahr, dass es dort zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, sagte Schallenberg, der im Juli eine Woche in den Vereinigten Staaten verbracht und viele Gespräche geführt hatte, dass er diese Bedrohung nicht sehe. Das tödliche Attentat auf den Pro-Trump-Aktivisten Charlie Kirk halte er allerdings für eine "Katastrophe", da es die Spaltung verstärke.

Zusammenfassung
  • Alexander Schallenberg fordert für Europa einen grundlegenden Mentalitätswandel und mehr Mut zu disruptiven Veränderungen, da die Zeit der Selbstzufriedenheit angesichts von Krieg, Pandemie und Wirtschaftskrisen vorbei sei.
  • Er bezeichnet Migration als Haupttreiber des Populismus und betont, dass Österreich seit zehn Jahren pro Kopf die meisten Asylanträge in Kontinentaleuropa verzeichnet, mit Ausnahme von Zypern.
  • Schallenberg kritisiert die Fokussierung auf Nebenthemen und warnt, dass Europas Wohlstand und Sicherheit nicht mehr selbstverständlich sind, während massive Integrationsprobleme weiterhin bestehen.