APA/APA/AFP (Archivbild aus dem Jahr 2019)/MARTIN BUREAU

"Marie Antoinette" - Porträt einer kopflosen Königin

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Mitunter wirken Fake News über Jahrhunderte nach und werden dann wie Tatsachen tradiert. Der Ausspruch "Sollen sie doch Kuchen essen", der angesichts wegen Brotmangels revoltierender armseliger Menschenmassen gefallen sein soll, ist wohl das einzige Zitat, das von Frankreichs Königin Marie Antoinette allgemein geläufig ist. Sie hat den Satz freilich nie gesagt. Er hätte auch nicht zu ihr gepasst, wie einer neuen Biografie der Historikerin Michaela Lindinger zu entnehmen ist.

In dem jüngst erschienenen Buch mit dem aufwändigen Titel "Marie Antoinette. Zwischen Aufklärung und Fake News. Im Zentrum der Revolution. Königin der Lust." wird ein differenziertes Bild der üblicherweise als dekadent und bloß dem luxuriösen Hofleben, ihrer Frisur oder Kleidung zugetan dargestellten Tochter von Kaiserin Maria Theresia aus dem Hause Habsburg-Lothringen gezeichnet.

Zweifellos war sie ein "Opfer" der vom Machtkalkül angetriebenen Heiratspolitik der Herrscherhäuser im 18. Jahrhundert: Als 14-Jährige wurde sie mit dem nur wenig älteren französischen Thronfolger Ludwig (Louis) verheiratet, somit zur Dauphine und vier Jahre später nach dem Pocken-Tod von Ludwig XV. zur Königin von Frankreich und Navarra.

Selbst wenn das Image der eitlen und egozentrischen Prinzessin natürlich nicht von ungefähr kam, zeichnete sich Marie Antoinette Lindingers Recherchen zufolge auch durch ihre Natürlichkeit, ihren Drang zur Veränderung, ihren Mut, neue Wege zu gehen und alte Muster zu durchbrechen aus. Im Gegensatz zu ihrem schwerfällig Gemahl Ludwig XVI. erkannte sie auch die Zeichen der Aufklärungszeit. Glaubte man der Autorin zog Marie Antoinette auch ihre Konsequenzen daraus. Sie reduzierte etwa ihre Ausgaben für Schmuck, um diese den Staatsetat zur Verfügung zu stellen, während Ludwig sich vorwiegend dem Weinkonsum und der Jagd hingab.

Die Biografie zeichnet ein detailliertes Bild des Lebens am Hof von Versailles, der allem Prunk zum Trotz ungeahnte Niederungen zu bieten hatte. Abgesehen davon, dass das junge (Thronfolger)-Paar eine zeitlang keine Kinder bekam, weil vor allem der Dauphin niemals aufgeklärt worden war, wie eine Ehe zu vollziehen sei, herrschten mitunter befremdliche Gewohnheiten vor. So wird die deutsche Adelige Liselotte von der Pfalz, die auch in Versailles eingeheiratet hatte, mit den Worten zitiert, wonach sie keinen Schritt aus ihrem Zimmer habe gehen können, "ohne jemanden pissen zu sehen".

Es gab demnach zwar "eine Rangordnung, die besagte, wer wann einen Abtritt benutzen durfte, doch an allen Orten in Versailles verrichteten Tausende Menschen ihre Notdurft überall hin: hinter den Vorhängen, in sämtlichen Ecken, in vorübergehend leer stehenden Räumen, auf dem Dachboden, in Wäscheschränken, die für die Arbeit der Zimmermädchen in den Gängen bereitstanden..." Fazit: "Den Geruch im Schloss möchte man sich trotz der unzähligen schweren Parfums, die alle adeligen Damen und Herren am berühmten 'parfümierten Hof' überreich benutzten, nicht vorstellen."

Auch an anderer Stelle relativiert die Autorin die Vorstellung von einem unbeschwerten und glamourösen Leben am Hof. Gleich zu Beginn schildert sie, wie Marie Antoinette bei ihrer Ankunft in Frankreich ebenso die einfachen Menschen wie den Adel bezirzte: "Sie öffnete den Mund und lächelte. Das begeisterte Publikum erblickte eine Reihe jugendlicher, recht gerade heller Zähne." Das war damals mehr als außergewöhnlich, wobei Marie Antoinette zum Zeitpunkt strategisch freundlich eingesetzten Zähnefletschens natürlich noch jung war. Generell sah die Realität Ende des 18. Jahrhunderts freilich so aus: "Kaum jemand über 40 konnte viele Zähne sein Eigen nennen."

Das war am Hof von Versailles nicht viel anders als beim Rest der Bevölkerung. Generell klaffte die Kluft zwischen der Aristokratie und dem gemeinen Volk weit auseinander, doch wurde Marie Antoinette in weiterer Folge nicht nur Opfer sozialer Widersprüche. Sie sah sich auch eine ausgeprägten Ausländerfeindlichkeit gegenüber. Nicht von ungefähr wurde die Bezeichnung "l ́autrichienne" (die Österreicherin) auch von Feind/inn/en und Intrigant/inn/en am Hof wie "l ́autre chienne" - also "die andere Hündin" - ausgesprochen. Die Stimmung war also teils auch am Hof schon gegen die Monarchin aus Österreich gerichtet, ehe die von Luis XVI. völlig negierte Französische Revolution auf Touren kam.

Auch Marie Antoinette schlug Warnungen ihres Bruders, des aufgeklärten Kaisers Joseph II., in den Wind, dass in Frankreich die Zeichen auf Revolution standen. Doch waren die Vorwürfe, die gegen sie nach deren tatsächlichem Ausbruch im Jahr 1789 erhoben wurden, oft weit übertrieben oder gar erfunden. Die Autorin führt zahlreiche Beispiele an, dass Marie Antoinette sehr wohl auch eine fürsorgliche Ader hatte, die von arroganten Standesdünkel entfernt war. So wollte sie einen armen Waisenknaben, der bei einer Landpartie von ihrer Kutsche angefahren worden waren, sogar nach Versailles holen und dort eine entsprechende Erziehung und Ausbildung angedeihen lassen. Dass er letztlich wieder weggeschickt wurde, lag nicht an ihr sondern an gegen sie gerichteten höfischen Intrigen.

Der ab 1793 geführte Prozess vor einem Revolutionsgericht geriet völlig aus den Fugen, ist in der ziemlich frei formulierten und ohne detaillierte Quellenangaben abgefassten Biografie zu erfahren. Dokumentiert sind Dutzende widersprüchlichen Zeugenaussagen, die zumindest tellweise offenbar jeglicher Grundlage entbehrten. Etwa dass sie ein inzestuöses Verhältnis zu ihrem Sohn gepflegt und überhaupt ein sexuell ausschweifendes Leben geführt habe. In Wahrheit dürfte die Erotik aber keine dominante Rolle in Marie Antoinettes Leben gespielt haben.

Ihres königlichen Ranges enthoben wurde "Antoinette Capet" zum Tod verurteilt und am 16. Oktober 1793 mit der Guillotine enthauptet. Doch zollten ihr die Revolutionsblätter angesichts ihres aufrechten Gangs zum Schafott fast so etwas wie Respekt: "Das Luder war wagemutig und frech bis zum Ende."

Auch das vorliegende Buch fällt freilich keinen Freispruch . Es versucht auch keine Reinwaschung der Monarchin, die knapp vor ihrem 38. Geburtstag den Kopf verlor. Es liefert aber ein vielfältiges und kritisch durchleuchtetes Bild, von Marie Antoinette einerseits, der Gesellschaft ihrer Zeit - ob retro-aristokratischer oder populär- aufrührerischer Ausprägung - anderseits.

S ER V I C E - Michaela Lindinger: Marie Antoinette. Zwischen Aufklärung und Fake News. Im Zentrum der Revolution. Königin der Lust. Molden Verlag, Wien 2023. 304 Seiten; 30,00 Euro. ISBN 978-3-222-15087-6.

ribbon Zusammenfassung
  • Mitunter wirken Fake News über Jahrhunderte nach und werden dann wie Tatsachen tradiert.
  • Die Biografie zeichnet ein detailliertes Bild des Lebens am Hof von Versailles, der allem Prunk zum Trotz ungeahnte Niederungen zu bieten hatte.
  • Auch an anderer Stelle relativiert die Autorin die Vorstellung von einem unbeschwerten und glamourösen Leben am Hof.
  • In Wahrheit dürfte die Erotik aber keine dominante Rolle in Marie Antoinettes Leben gespielt haben.