APA/APA/AFP/ODD ANDERSEN

In Krisen setzen Parteien in Europa auf Mitgliedervotum

0

Besonders in Zeiten parteiinterner Krisen haben sozialdemokratische Parteien in Europa zuletzt oft auf eine Einbeziehung der Parteimitglieder bei der Kür der Parteiführung gesetzt. So wurden unter anderem in Deutschland, Spanien, Portugal und Frankreich in den vergangenen Jahren Parteivorsitzende oder Spitzenkandidaten per Mitgliederentscheid bestimmt. In Italien veranstaltet die Mitte-Links-Partei PD bereits seit Jahren regelmäßig Vorwahlen nach US-Vorbild.

In DEUTSCHLAND wurde 2019 nach mehreren Wechseln an der SPD-Parteispitze und einer historischen Wahlschlappe auf innerparteilichen Druck hin eine Mitgliederbefragung angesetzt. Bestimmt werden sollte nach dem Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles im Juni eine gleichberechtigte Doppelspitze - darunter mindestens eine Frau. Sechs Duos bewarben sich in einem wochenlangen Prozess mit insgesamt 23 Regionalkonferenzen in allen deutschen Bundesländern um den Parteivorsitz. Anschließend konnten die 430.000 SPD-Mitglieder per Briefwahl und online ihre Stimme abgeben. Da kein Kandidatenpaar eine absolute Mehrheit erreichte, folgte eine zweite Mitgliederbefragung als Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten, Klara Geywitz/Olaf Scholz und Saskia Esken/Norbert Walter-Borjans.

Die Sieger Esken und Walter-Borjans wurden anschließend im Dezember auf einem Parteitag an die Parteispitze gewählt. Das Duo war von den einflussreichen Jusos unterstützt worden, während sich die gesamte Parteispitze für Scholz ausgesprochen hatte. Der große Verlierer triumphierte allerdings nur knapp ein Jahr später, als er von seinen früheren innerparteilichen Gegnern an der Parteispitze zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde. Die Parteimitglieder wurden in diese Entscheidung nicht einbezogen. Der damalige Finanzminister Scholz war zu der Zeit der mit Abstand beliebteste SPD-Politiker und führte seine Partei ein Jahr später nach 16 Jahren wieder ins Kanzleramt. Zuvor hatte die SPD erst einmal ihren Parteivorsitzenden per Mitgliederentscheid bestimmt: 1993 setzte sich Rudolf Schärping in einer Mitgliederbefragung gegen Gerhard Schröder durch. 56 Prozent der rund 870.000 SPD-Mitglieder beteiligten sich damals an der Befragung. Auch damals erwies sich der unterlegene Kandidat letztlich als der erfolgreichere: Während Scharping bei der Wahl unterlag, wurde Schröder 1998 Kanzler.

In ITALIEN veranstaltet die Mitte-Links-Partei PD bereits seit ihrer Gründung 2007 regelmäßig Vorwahlen nach US-amerikanischem Vorbild zur Bestimmung des Parteivorsitzenden. Zeitgleich mit der Gründung des Partito Demcratico als Fusion der Linksdemokraten (DS) und der Zentrumsbewegung Margherita wurde der neue Parteichef Walter Veltroni in einer Vorwahl bestimmt. Ähnlich wie in den USA durften an den sogenannten "primarie" nicht nur Parteimitglieder sondern alle Italiener und in Italien lebenden Ausländer ab 16 Jahren teilnehmen. Die Vorwahl wurde zum Erfolg: Rund 3,3 Millionen Menschen gaben in mehr als 11.000 Wahllokalen im ganzen Land ihre Stimme ab. Seitdem fanden sechs weitere Mal Vorwahlen statt. Zuletzt wurde Ende Februar mit Elly Schlein erstmals eine Frau an die Spitze der Mitte-Links-Partei gewählt. Die Wahl war durchaus überraschend und entsprach nur bedingt dem Willen der Parteimitglieder. Denn als in einer ersten Phase von den Parteimitgliedern in den lokalen Parteigremien aus vier Kandidaten zwei ausgewählt wurden, lag Schlein mit 33 Prozent deutlich hinter dem favorisierten Stefano Bonaccini mit 54 Prozent. Bei der Vorwahl am 26. September, an der rund 1,1 Millionen Parteimitglieder und Sympathisanten teilnahmen, triumphierte Schlein schließlich mit 53,75 Prozent.

In FRANKREICH werden die Mitglieder der Sozialistischen Partei schon seit vielen Jahren regelmäßig in die Wahl von Parteichefs und Präsidentschaftskandidaten einbezogen. In einer schweren Krise nach dem Verzicht des Hoffnungsträgers Jacques Delors auf eine Kandidatur für die Präsidentenwahl wurde 1995 erstmals eine Urwahl abgehalten. 73,1 Prozent der rund 103.000 Parteimitglieder beteiligten sich an der Abstimmung und wählten Lionel Jospin mehrheitlich zum Präsidentschaftskandidaten. Auf einem Sonderparteitag wurde das Ergebnis anschließend bestätigt. Obwohl Jospin bei der knapp drei Monate später stattfindenden Präsidentenwahl als chancenlos galt, schaffte er es überraschend in die Stichwahl und dort ein respektables Ergebnis gegen den siegreichen Jacques Chirac.

2012 entschied sich die französische Sozialistische Partei erstmals für Vorwahlen, an denen auch Nicht-Parteimitglieder teilnehmen konnten. Aus den "primaires citoyennes" ging François Hollande als Sieger hervor und zog nach der Präsidentenwahl in den Elysée-Palast ein. Seit dessen Ausscheiden aus dem Amt ging es mit der Partei steil bergab. Vor der Präsidentenwahl im Vorjahr wurde die zunächst geplante Vorwahl abgesagt und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ohne große Debatten ins Rennen geschickt. Sie erhielt bei der Präsidentenwahl nur 1,75 Prozent. Der aktuelle Parteivorsitzende Olivier Faure wurde traditionsgemäß per Urwahl von den Parteimitgliedern gewählt. Allerdings geriet die letzte Urwahl im Jänner zum Fiasko, als Faures Konkurrent Nicolas Mayer-Rossignol wegen des knappen Ergebnisses seine Niederlage erst nach einem tagelangen Machtkampf akzeptierte.

In SPANIEN wird seit 2014 der Generalsekretär der sozialdemokratischen Partei PSOE in einer Urwahl aller Parteimitglieder gewählt. Die Kandidaten benötigen zum Antritt Unterstützungsunterschriften von fünf Prozent der Parteimitglieder. Eingeführt wurde das Mitgliedervotum, als die PSOE 135 Jahre nach der Gründung in ihrer bis dahin tiefsten Krise steckte. Parteichef Alfredo Perez Rubalcaba warf nach dem Debakel der Partei bei der Europawahl im Mai 2014 das Handtuch. Bei der anschließenden Urwahl der knapp 200.000 Parteimitglieder setzte sich der bis kurz zuvor in Spanien noch weitgehend unbekannte Pedro Sánchez gegen die Gegenkandidaten Eduardo Madina und José Antonio Perez Tapias durch. Auf einem Sonderparteitag zwei Wochen später wurde der neue PSOE-Chef offiziell bestätigt. 2016 trat Sánchez nach parteiinterner Kritik zurück, kehrte aber nur knapp acht Monate später einer neuerlichen Urwahl der Parteimitglieder an die Parteispitze zurück. Rund 187.000 waren diesmal zu Abstimmung aufgerufen.

Auch in GROSSBRITANNIEN erfolgt die Wahl des Labour-Vorsitzenden unter Einbeziehung der Parteimitglieder. Die Wahl läuft nach den aktuellen Regeln in zwei Schritten ab: Kandidaten müssen Abgeordnete sein und von mindestens 20 Prozent der Labour-Parlamentarier nominiert werden. In weiterer Folge brauchen sie einen gewissen Prozentsatz an Parteiunterstützung aus den Wahlkreisen oder aus mit Labour verbundenen Gruppierungen wie Gewerkschaften. Dann sind die Mitglieder am Zug. 2021 wurde die Möglichkeit abgeschafft, auch als Nicht-Mitglied den Parteichef mitzubestimmen, indem man sich registrierte und eine Unterstützungszahlung leistete. Bisher gab es zwar weibliche Kandidatinnen für den Parteivorsitz, aber noch keine Labour-Chefin. Seit April 2020 liegt die Führung der größten britischen Oppositionspartei in den Händen von Keir Starmer. Er wurde mit 56,2 Prozent gewählt. Stimmberechtigt waren damals mehr als 780.000 Personen.

Auch in GRIECHENLAND setzt die sozialdemokratische Partei PASOK schon seit Jahren auf eine Urabstimmung, an der nicht nur Parteimitglieder sondern auch Sympathisanten der Sozialisten teilnehmen können. Angesichts schlechter Umfragewerte wurde 2004 ein Generationswechsel eingeleitet und das Parteistatut geändert, um die Vorwahl zu ermöglichen. Mitwählen können auch EU-Bürger mit ständigem Wohnsitz in Griechenland. Bei der letzten Vorwahl 2021 beteiligten sich mehr als 200.000 Mitglieder und wählten mehrheitlich Nikos Androulakis zum Vorsitzenden der PASOK.

ribbon Zusammenfassung
  • Besonders in Zeiten parteiinterner Krisen haben sozialdemokratische Parteien in Europa zuletzt oft auf eine Einbeziehung der Parteimitglieder bei der Kür der Parteiführung gesetzt.
  • So wurden unter anderem in Deutschland, Spanien, Portugal und Frankreich in den vergangenen Jahren Parteivorsitzende oder Spitzenkandidaten per Mitgliederentscheid bestimmt.
  • Er wurde mit 56,2 Prozent gewählt.
  • Stimmberechtigt waren damals mehr als 780.000 Personen.

Mehr aus Politik