Erster Koalitionskrach?
Menschenrechte: Stocker überrumpelt SPÖ und NEOS mit Vorstoß
Neun EU-Staaten haben in der Vorwoche in einem gemeinsamen Brief dazu aufgerufen, die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu ändern – mit dem Ziel, ausländische Straftäter künftig leichter ausweisen zu können.
Auch Bundeskanzler Christian Stocker schloss sich der Initiative an: "Wir sollten auf nationaler Ebene mehr Spielraum haben, um zu entscheiden, wann wir kriminelle Ausländer ausweisen."
NEOS kritisieren "Alleingang" von Stocker
Für Aufregung sorgte die Initiative nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern auch bei den Koalitionspartnern der ÖVP. Wie sich am Dienstag zeigte, stimmte sich Stocker bei seinem Vorstoß nicht mit SPÖ und NEOS ab.
Von einem "Alleingang" des Bundeskanzlers sprach die pinke Abgeordnete Stephanie Krisper. "Aus NEOS-Sicht sind politische Zurufe an unabhängige Gerichte fehl am Platz", erklärte sie.
Zudem betonte Krisper, dass an völkerrechtlich eingegangenen Verpflichtungen Österreichs und rechtsstaatlichen Prinzipien nicht gerüttelt werden dürfe.
SPÖ: "Sehr problematisch"
Auch die SPÖ übte Kritik am Vorgehen des Bundeskanzlers. Die Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Nationalrat, Petra Bayr, bezeichnete den Vorstoß gegenüber der APA als "sehr problematisch".
Er unterminiere in letzter Konsequenz die Glaubwürdigkeit der Höchstgerichte.
"Natürlich soll man mit Gerichten über ihre Rechtsprechung diskutieren können, aber im besten Fall nicht öffentlich. An der Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist für mich nicht zu rütteln", so Bayr.
Was ist die EMRK?
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa. Sie wurde 1950 vom Europarat beschlossen und trat 1953 in Kraft. Alle 46 Mitgliedstaaten des Europarats haben die EMRK ratifiziert und sind verpflichtet, grundlegende Rechte wie das Recht auf Leben, Freiheit, ein faires Verfahren, Meinungsfreiheit und das Verbot von Folter zu gewährleisten. Die Einhaltung überwacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Einzelpersonen können dort Beschwerde einlegen, wenn sie ihre Rechte verletzt sehen und alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft haben.
Die EMRK sei ein "Grundbaustein der Menschenrechtsgesetzgebung", betonte sie. Deren Auslegung sei allein den Gerichten, insbesondere dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), vorbehalten.
Bayr ist auch Vorsitzende jenes Ausschusses in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, der Hearings mit angehenden EGMR-Richtern durchführt.
Plakolm: "Uns sind die Hände gebunden"
Rückendeckung bekommt Stocker zumindest aus der eigenen Partei. Am Rande eines EU-Ministertreffens in Brüssel erklärte Europaministerin Claudia Plakolm, die Asyl- und Migrationspolitik könne nur dann funktionieren, wenn es möglich sei, straffällige Asylwerber abzuschieben.
"Aufgrund der EMRK sind uns hier die Hände gebunden", sagte Plakolm mit Blick auf das Rechtsdokument, das Teil der österreichischen Bundesverfassung ist.
Zusammenfassung
- Der türkis-rot-pinke Bundesregierung droht ihren ersten Koalitionskrach.
- Ohne sich mit den Koalitionspartnern abzusprechen, hat sich Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) dafür ausgesprochen, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) neu zu interpretieren.
- SPÖ und NEOS stellen sich klar gegen den "Alleingang" der ÖVP.