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Alle gegen Putin: Steht das System Russland vor dem Ende?

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Der Wagner-Aufstand war ein "Verrat" gegen den Kreml von bisher nie dagewesenem Ausmaß. Aus Soldatenkreisen kommen schon seit Monaten Beschwerden über das Versagen der militärischen Befehlshaber. Laut Insiderinformationen sollen auch schon die russischen Eliten wissen: Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden. Bröckelt Putins Fassade eines unbezwingbaren, unverwundbaren Russlands?

Russland werde gestärkt aus dem Aufstand der Söldnertruppe Wagner hervorgehen, versicherte zuletzt Russlands Außenminister Sergej Lawrow. "Russland hat immer alle Schwierigkeiten überwunden. Es wird auch dieses Mal so sein", versprach er. Das Land werde durch die Bewältigung von Herausforderungen "stärker und stärker".

Die Frage, ob Russland tatsächlich "stärker und stärker" wird, ist jedoch immer noch offen. Nach dem Aufstand der Wagner-Söldner könnte Putins Fassade eines unbezwingbaren Russlands langsam anfangen zu bröckeln.

Aufstand von bisher unbekanntem Ausmaß

Die von Jewgeni Prigoschin angeführte Wagner-Gruppe hatte am 23. und 24. Juni mehrere Militärstandorte im Süden Russlands unter ihre Kontrolle gebracht. Prigoschin kündigte einen Marsch auf Moskau an. Nach einer Vermittlung durch den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko brach Prigoschin den Aufstand nach nur 24 Stunden schließlich ab. Die Abmachung sah vor, dass Prigoschin ins Exil nach Belarus geht. Gegen die Aufständischen wurden keine Strafen verhängt, die russischen Geheimdienste erklärten, gegen Wagner gerichtete Untersuchungen eingestellt zu haben. Westliche Beobachter sahen darin ein Zeichen der Schwäche des Kreml.

Ob Prigoschins "Marsch der Gerechtigkeit" im Alleingang geplant oder möglicherweise weitere militärische Eliten involviert waren, ist derzeit noch unklar. Die Frage, ob "innere Feinde" oder "Verräter" zu Putins engstem Kreis gehören, ist noch offen. Der Aufstand des Wagner-Chefs war zwar schnell wieder beendet, die Bedeutung der Tat war jedoch von bisher unbekanntem Ausmaß, schätzen Expert:innen.

"Prigoschin zeigte den Russen einen flüchtigen Blick auf eine alternative Zukunft und gab damit noch mehr Russen Grund, an ihrer Führung zu zweifeln. Ist Putin wirklich die allmächtige, zarentreue Figur, für die sie ihn hielten?", fragt Politologe und Russland-Experte Andrej Kolesnikow in der "New York Times".

Prigoschins Aufstand könnte ein ermutigendes Signal für diejenigen sein, die unzufrieden sind und einen Machtwechsel wollen.

Prigoschin zeigte den Russen einen flüchtigen Blick auf eine alternative Zukunft und gab damit noch mehr Russen Grund, an ihrer Führung zu zweifeln. Ist Putin wirklich die allmächtige, zarentreue Figur, für die sie ihn hielten?

Politologe und Russland-Experte Andrej Kolesnikow

Elite: "Putin wird diesen Krieg nicht gewinnen"

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte laut Putin innerhalb weniger Tage beendet werden sollen, nun dauert er bereits über 16 Monate an.

Das scheint mittlerweile für eine dunkle Stimmung innerhalb der russischen Elite zu sorgen, schlussfolgert das US-Medium "Bloomberg", das mit sieben Insidern gesprochen hat. In der politischen und wirtschaftlichen Elite sollen viele genug vom Krieg haben und wollen, dass er aufhört. Das Vertrauen in Putins Führung sei erschüttert worden. Trotzdem sei niemand bereit, dem Präsidenten die Stirn zu bieten.

Die Elite habe Angst, zum Sündenbock für einen sinnlosen Krieg gemacht zu werden, so Kirill Rogow, ehemaliger russischer Regierungsberater, der Russland nach Beginn des Krieges verlassen hat. Es sei überraschend, "wie weit verbreitet in der russischen Elite die Vorstellung ist, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnen wird".

Die meisten Elite-Mitglieder würden jedoch schweigen, in der Überzeugung, die Ereignisse nicht beeinflussen zu können. "Beamte haben sich an die Situation angepasst, aber niemand sieht ein Licht am Ende des Tunnels - sie sind pessimistisch, was die Zukunft angeht", meint dazu Alexandra Prokopenko, eine ehemalige russische Journalistin und Beraterin der Zentralbank. "Das Beste, worauf sie hoffen, ist, dass Russland ohne Demütigung verlieren wird".

"Wir weigern uns, Befehle zu befolgen"

Und was ist mit Putins Soldaten? Seit Monaten gibt es Berichte darüber, dass die Einberufenen schlecht vorbereitet in den Krieg geschickt werden. Von mangelhafter Ausrüstung und Training ist die Rede. Abgehörte Telefonate russischer Soldaten zeigten schon zu Beginn des Krieges, dass viele nicht wussten, was sie überhaupt im Krieg erwartet.

Und immer wieder tauchen Videos in sozialen Medien auf, in denen russische Soldaten von hohen Verlusten und schlechter Behandlung sprechen, manche von ihnen verlassen ihre Posten.

"Wir waren mal 150 Personen. Nach heftigen Kämpfen, ist das von uns übrig geblieben", sagt ein russischer Soldat in die Kamera. Er zeigt auf eine Gruppe von höchstens 20 Soldaten. Man habe ihnen keine Munition, kein Essen und Trinken gegeben. Verwundete Soldaten seien nicht aus der Kampfzone evakuiert worden, die Toten würden "immer noch dort verrotten". "Schreckliche Befehle wurden erteilt, die nicht befolgt werden sollten." In drei Monaten sollen sie kein einziges Mal bezahlt worden sein, erklärt er.

"Wir weigern uns, Befehle zu befolgen, und zwar aus einer Reihe der oben genannten Gründe. Wir ergeben uns der Militärpolizei", so der Soldat.

"Wir werden wie Kanonenfutter eingesetzt"

Das Video ist kein Einzelfall. Zahlreiche ähnliche Aufnahmen kursieren seit Monaten auf Sozialen Medien.

Ein Soldat des 1486. Regiments spricht davon, seine Kommandanten hätten ihn und andere Soldaten "wie Kanonenfutter" in die Schlacht von Bachmut geschickt. "Viele kommen vom Stausee zurück und sagen, dass sie dorthin geschickt wurden, um "die Artillerie abzulenken"', beklagt er.

Das Kommando wisse nicht, was es tue, keiner wisse irgendwas. Die Soldaten könnten die Kommandanten nicht erreichen und wenn sie sie erreichen, käme der Befehl: Bleibt bis zum Ende - "zum Sterben, sie werden wie Tiere behandelt".

"Wir werden hier sterben", beendet er das Video.

Viele russische Soldaten erwartete im Krieg nichts anderes als der Tod. Wie hoch die Verluste Russlands seit Beginn des Krieges sind, kann nicht genau gesagt werden. US-Schätzungen gehen von über 20.000 Toten und 80.000 Verwundeten allein von Dezember 2022 bis Mai 2023 aus. Die "BBC" hat über 25.000 namentlich bekannte russische Soldaten recherchiert, die seit Beginn des Krieges getötet wurden. Laut "BBC" handle es sich hier aber um eine "Untergrenze", es gebe viele Soldaten, deren Tod nicht nachverfolgt werden kann.

Unfähigkeit, die Menschen zu schützen

Und je mehr Verluste es gibt, je mehr Brüder, Väter, Ehemänner sterben, desto größer könnte die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung werden. Für viele Russen sei der Glaube an die Stärke der russischen Waffe stets das wichtigste Kriegsargument gewesen, so Politologe Abbas Galljamow gegenüber dem "Stern". Laut Galljamow verliere der Machtapparat durch nichts so viel Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.

Und genau diese Unfähigkeit sei demonstriert worden, als im Mai mehrmals Drohnen über Moskau flogen. Mehrere Wohngebäude seien beschädigt worden, zwei Menschen wurden verletzt. Bei einem Angriff von ukrainischer Seite kam es in der russischen Grenzregion Belgorod zu russischen Verlusten: Ein Wohnhaus geriet dabei in Brand. Viele Menschen flohen.

Und es wird immer klarer: Der Krieg nähert sich nun auch den Russ:innen selbst. Das zeigt gerade auch der Wagner-Aufstand. Angesichts des bewaffneten Aufstands mussten die Behörden in Moskau und Umgebung den Anti-Terror-Notstand ausrufen. In seiner Rede warnte Putin vor einem "Bürgerkrieg". Laut Prigoschin selbst habe der Aufstand "schwerwiegende Sicherheitsprobleme" in Russland aufgezeigt.

Stimmung in der Bevölkerung auf Jahrzehnt-Tiefstand

Meinungsumfragen zufolge scheint die Unterstützung der russischen Bevölkerung für ihren Präsidenten nach wie vor hoch zu sein. Eine Analyse der Universitäten Cambridge und Surrey, die die Internet-Suchanfragen von Russ:innen von 2012 bis April 2023 untersucht hat, ergibt jedoch anderes: Die Stimmung der Bevölkerung sei auf einem Tiefpunkt, wie ihn das Jahrzehnt noch nicht gesehen hat. 

Die täglichen Suchanfragen von Millionen Russ:innen würden darauf hindeuten, dass "die Begeisterung für den Krieg begrenzt ist", eine "stillschweigende Ablehnung" habe in der Bevölkerung zugenommen.

Immer öfter würden die Russ:innen Begriffe wie "Schlaflosigkeit", "Depression", "Konkurs" und "Zwangsräumung" googeln. Auch Namen von Kreml-Kritikern wie Boris Nemzow und Alexej Nawalny würden häufig in Suchanfragen angegeben werden. Dies sei vor allem der Fall nach Ankündigungen von Einberufungen, wie im September 2022, gewesen. "Kein Krieg"- und "Pazifismus"-Suchanfragen, die mit einer Antikriegsstimmung in Verbindung gebracht werden, seien in dieser Zeit ebenfalls angestiegen.

Putin geschwächt, Regime verwundet

Der weitere Verlauf des Kriegs kann nicht vorhergesagt werden. Expert:innen scheinen sich aber einig zu sein: Putins Regime wurde zwar nicht zerstört, aber es wurde definitiv verwundet.

Seit dem Wagner-Aufstand wisse Putin, dass die Loyalität in seiner Kernführung "für ihn nicht gesichert ist", meint Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte Gerhard Mangott gegenüber PULS 24. Der Aufstand habe gezeigt, dass Putin nicht der "mächtige, alles kontrollierende, umsichtige, alleswissende Führer des Landes ist", als der er sich immer präsentiert.

Der russische Präsident habe sich nun als ein Politiker gezeigt, der Führungsfehler begeht und Lagen falsch einschätzt. "Das hat Putins Ansehen nicht nur in der politischen Elite geschädigt, sondern auch in Teilen der Bevölkerung", so Mangott.

Die Verluste in der russischen Armee sind hoch, viele Soldaten scheinen sich allein gelassen zu fühlen – Vorwürfe, die militärische Führung würde versagen, werden laut. Und je mehr Verluste es gibt und je mehr die russische Führung darin versagt, ihre eigenen Grenzgebiete und die Menschen zu schützen, desto größer dürfte der Unmut in der Bevölkerung werden. Die Elite scheint laut Insiderinformationen schon lange zu ahnen, dass Putin den Krieg nicht gewinnen kann. Und die Frage, ob der Aufstand der Wagner-Söldner nicht nur der erste Putschversuch von vielen gewesen ist, bleibt offen.

ribbon Zusammenfassung
  • Der Wagner-Aufstand war ein "Verrat" gegen den Kreml von bisher nie dagewesenem Ausmaß.
  • Aus Soldatenkreisen kommen schon seit Monaten Beschwerden über das Versagen der militärischen Befehlshaber.
  • Laut Insiderinformationen sollen auch schon die russischen Eliten wissen: Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden.
  • Bröckelt Putins Fassade eines unbezwingbaren, unverwundbaren Russlands?