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Seuche Despotismus: Orhan Pamuks Roman "Die Nächte der Pest"

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Seinen neuen Roman "Die Nächte der Pest" hat Orhan Pamuk bereits 2016 zu schreiben begonnen. Corona war für die Öffentlichkeit bestenfalls eine mexikanische Biermarke und Begriffe wie Quarantäne oder Lockdown existierten im allgemeinen Sprachgebrauch nicht. Pamuks Geschichte über einen Pestausbruch im Jahr 1901 auf einer fiktiven Mittelmeerinsel ist dennoch eine Parabel - jedoch mehr auf politische als auf pandemische Verhältnisse. Es geht um Despotismus und Nationalismus.

Die zwischen Rhodos und Kreta gelegene und zum Osmanischen Reich gehörende Insel Minger gilt mitsamt ihrer Hauptstadt Arkaz als "Perle des östlichen Mittelmeers", deren Pracht schon von Homer besungen wurde. Orthodoxe Christen und Muslime, Griechen und Osmanen leben hier friedlich - wenn vielleicht nicht immer miteinander, so doch nebeneinander. Alles könnte so schön sein, wenn nicht...

Und da gibt es gleich einige Dinge, die dem entgegenstehen: Unfähigkeit, Korruption und Ignoranz örtlicher Würdenträger; alter Aberglaube im Widerstreit gegen moderne Wissenschaft; unterschwellige religiöse und nationale Spannungen. Und vor allem eine Krankheit, die sich rasant ausbreitet, deren wirksame Bekämpfung jedoch in den entscheidenden Tagen durch Opportunismus und Entscheidungsschwäche verhindert wird. Minger wird von der Pest heimgesucht. Um 1900 gab es tatsächlich eine Pestepidemie in Asien, die Millionen Tote forderte, deren Ausbreitung nach Europa jedoch erfolgreich verhindert werden konnte.

Sowohl die im Roman geschilderten Maßnahmen der Seuchenbekämpfung als auch die Mechanismen der Reaktionen ähneln aufs Haar jenen, die wir aus leidvoller Erfahrung der vergangenen zwei Jahre kennen. Doch so minutiös und akribisch Pamuk die Vorgänge in der Quarantänekommission und am Hof des Gouverneurs auch schildert, es geht ihm weniger um die gesundheitlichen als um die politischen Verheerungen, die in Gang kommen. Bis jedoch Aufruhr herrscht, eine von den Großmächten exekutierte Blockade über die Insel verhängt wird, die Revolution ausbricht und die Insel schließlich ihre Unabhängigkeit erklärt, gibt es viele Tote. "Selbst am Zittern der Blätter an den Bäumen war zu erkennen, dass in der Stadt die Angst umging." Doch nicht alle sterben an der Pest. Denn schon wenige Tage nach dem Eintreffen von Bonkowski Pascha, dem polnischstämmigen obersten Gesundheitsinspektor des Osmanischen Reiches, wird dieser tot aufgefunden. Es ist nur der Anfang einer Mordserie, deren Beweggründe unklar sind, deren Auswirkungen aber beträchtlich sind.

Als Erzähler hat sich der 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Dichter Orhan Pamuk große Meriten erworben. Von "Schnee" über "Rot ist mein Name" und "Das Museum der Unschuld" bis zu "Die rothaarige Frau" überließ man sich als Leser immer wieder gerne einem Erzählfluss, der ausgiebig auf mündliche Erzähltraditionen zurückgriff und Vergangenes mit Gegenwärtigem anspielungsreich verband. "Die Nächte der Pest" erweisen sich jedoch als unerwartet langwierig. Das liegt nicht nur an einer unerklärlichen Freude an der Wiederholung, die der Leser nicht immer mit dem Autor teilt, sondern auch an der Erzählkonstruktion.

Als zeitgenössische Erzählerin stellt sich gleich am Anfang eine gewisse Mina Mingerli vor, die angibt, bei der Herausgabe von 113 Briefen, die seinerzeit die mit dem Seuchenarzt Doktor Nuri verheiratete Sultansnichte Pakize Sultan an ihre Schwester geschrieben hatte, sei ihr das Material entglitten und habe sich zu einem eigenen historischen Roman verselbstständigt. Pakize Sultan habe anschaulicher, bunter und detailfreudiger über die Geschehnisse berichtet als alle Historiker und Diplomaten. Doch "wir dürfen nicht vergessen, dass sie ihr Zimmer im Gästehaus des Regierungsgebäudes während des Seuchenausbruchs so gut wie nie verließ und von den Geschehnissen in der Stadt nur erfuhr, was ihr Mann, der Arzt, ihr davon erzählte!" Mina ist, das wird sie kurz vor Ende des Buches zugeben, die in Minger geborene Urenkelin von Pakize Suktan und ihrem Mann und weiß auch über die späteren Geschicke der Insel zu berichten.

"Die Nächte der Pest" erzählt nämlich nicht nur vom Ende des Kolonialismus und vom Zerfall des Osmanischen Reiches, sondern von einer Staatengründung, von der Neuerfindung einer Nation, inklusive der Etablierung einer nationalen Geschichte und einer eigenen Schriftsprache. "Es lebe Minger! Es leben die Mingerer! Es lebe die Freiheit!", lauten die letzten Sätze des Buches, ausgerufen von Pakize Suktan, die zwischenzeitlich zur Königin der Insel ausgerufen wird - eine der vielen Verirrungen in einem überaus verschlungenen Prozess, der seinen Ausgang bei dem selbstbewussten Major Kâmil nimmt, der die durch die Seeblockade erzwungene internationale Isolation als Gunst der Stunde nützt und Minger in die Unabhängigkeit führt.

Nicht nur die Namensähnlichkeit Kâmils mit dem türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat Pamuk, der vor Jahren bereits im Zusammenhang mit dem Völkermord an Armeniern wegen "Herabsetzung des Türkentums" angeklagt war, eine Klage wegen "Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne" eingetragen, die zwar in erster Instanz niedergeschlagen wurde, aber noch nicht endgültig ausgestanden ist. In der Türkei sind Gerichtsentscheidungen nicht selten von der politischen Großwetterlage abhängig, und da 2023 der 100. Jahrestag der Republikgründung gefeiert wird, scheint vieles möglich.

Das 500.000 Einwohner zählende Minger jedenfalls, so erfahren wir im Schlusskapitel, wird 1947 von der UNO offiziell als unabhängiger Staat anerkannt, stellt 2008 einen Antrag auf Aufnahme in die Europäische Union und besiegt 2012 in einem Qualifikationsspiel die Türkei durch einen Elfmeter in letzter Minute 1:0. In anschließenden Ausschreitungen werden in Istanbul Mingerer Geschäfte, Restaurants und Konditoreien (Spezialität: Nusstörtchen) geplündert und niedergebrannt. Nicht nur für diese Passagen von "Die Nächte der Pest" hat Pamuk wohl nicht viel dichterische Fantasie gebraucht.

Am 24. März wird Orhan Pamuk auf einer Lesereise auch im Wiener Konzerthaus Station machen. Die Lesung erfolgt auf Türkisch und Deutsch, gelesen vom Autor selbst und von Burgschauspielerin Dorothee Hartinger. Für den musikalischen Rahmen sorgen die beiden Pianistinnen Ferhan und Ferzan Önder.

(S E R V I C E - Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest", aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Hanser Verlag, 696 Seiten, 30,90 Euro, Lesung im Wiener Konzerthaus: 24. März, 19.30 Uhr, Mozart-Saal)

ribbon Zusammenfassung
  • Pamuks Geschichte über einen Pestausbruch im Jahr 1901 auf einer fiktiven Mittelmeerinsel ist dennoch eine Parabel - jedoch mehr auf politische als auf pandemische Verhältnisse.
  • "Die Nächte der Pest" erweisen sich jedoch als unerwartet langwierig.
  • Nicht nur für diese Passagen von "Die Nächte der Pest" hat Pamuk wohl nicht viel dichterische Fantasie gebraucht.
  • Am 24. März wird Orhan Pamuk auf einer Lesereise auch im Wiener Konzerthaus Station machen.

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