Milo Raus "Seherin" blickt bei den Festwochen in den Abgrund
Gleich zu Beginn schneidet sich Lardi mit einem Skalpell ins Bein und filmt sich dabei vermeintlich live mit dem Handy, dessen Bild auf die große, rückwärtige Leinwand im Wiener Odeon geworfen wird - von Beginn weg ein Spiel mit dem Trugbild, mit dem Täuschungspotenzial, das Aufnahmen von Gewalt innewohnt. Zugleich wird dieses Bild das einzige dezidiert gewalttätige des Abends bleiben. Kein ikonisches Kriegsfoto wird projiziert, kein Fanal des Leids auf die Leinwand geworfen. Ursina Lardi lässt die Aufnahmen vor dem geistigen Auge des Publikums entstehen, wenn sie über ihre Karriere als Fotografin erzählt.
"Ich liebe das Desaster", deklamiert sie in dieser ekstatischen Phase, im Rausch der Bilder, des Adrenalins. Erst als sie selbst am Tahrirplatz während des arabischen Frühlings vergewaltigt wird, bricht die abstrakte Beziehung zur Gewalt. Die namenlose Reporterin wird zur Seherin, machtlos wie die trojanische Cassandra: "Gott ist nicht tot. Er macht Jagd auf uns."
Das Amalgam
Lardis Figur ist dabei ein Amalgam aus den Lebensgeschichten von Kriegsfotografinnen und Reportern an der Front - und den Erlebnissen von Milo Rau selbst, der für Reportagereisen bereits an vielen Krisenherden der Welt war. Der Festwochen-Intendant inszeniert sich hier gleichsam selbst als Alter Ego, das wiederum selbstironisch über die Frage sinniert, weshalb mittelmäßige Regisseure immer glaubten, in Krisengebieten arbeiten zu müssen.
Es ist das Rau-typische Vexierspiel zwischen Fiktion und echter Geschichte, Akteuren ihrer selbst und Schauspielern, das sich auch in "Die Seherin" entfaltet. Die Begegnung mit dem Lehrer Azad Hassan in Mossul öffnet der Kriegsreporterin die Augen. Rau war Hassan, dem während der Terrorherrschaft des IS die Hand abgehackt wurde, einst selbst im Norden des Irak begegnet. Mittels Videozuspielung wird das Terroropfer als Akt der Selbstermächtigung zum Dialogpartner Lardis. Das verbindende Element ist die Wüste, ein Ödland, das sich auf dem Video ausbreitet und gespiegelt auch auf der Bühne. Auf diesem entfalten sich zwei Leben, die sich in den Dialog begeben, am Ende gar für einen Moment verbinden, wenn Lardis im Irak mit Hassan die Stätten seiner Pein besucht.
Der Wahrnehmungszauber
Dieser fließende Übergang zwischen Lebensgeschichte und konstruierter Geschichte entfaltet einen eigenen Zauber, öffnet Erkenntnisebenen über die konventionelle Wahrnehmung von Gewalt hinaus. Dass Rau als einzige Musik des Abends wiederholt Bachs "Agnus Dei" und damit barocke Klänge zur Transzendierung des Geschehens verwendet, erscheint da als ebenso lässlicher wie schon vielfach eingesetzter Kunstgriff.
Auch der mit dem Übertitel "Inspiriert von Philoktet von Sophokles" intendierte Konnex zur mythologischen Figur des Kriegers, der wegen einer nicht heilenden Verletzung von seinen Kameraden verlassen wird und sich letztlich entscheiden muss, ob er wieder in die Gemeinschaft zurückkehrt, erscheint eine unnötige Erweiterung. Hier wird einem komprimierten Kondensat an grundsätzlichen Fragen unseres Seins eine weitere Ebene hinzugefügt, die an diesem berührenden Abend eher überflüssig scheint.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Die Seherin" im Rahmen der Wiener Festwochen im Odeon, Taborstraße 10, 1020 Wien. Text/Regie: Milo Rau, Mitarbeit Text: Ursina Lardi, Bühne/Kostüm: Anton Lukas. Mit Ursina Lardi und Azad Hassan. Weitere Aufführungen am 6., 7. und 8. Juni. www.festwochen.at/die-seherin)
Zusammenfassung
- Milo Raus Stück 'Die Seherin' wurde am Donnerstag im Odeon bei den Wiener Festwochen uraufgeführt und thematisiert die Abgründe der Kriegsfotografie aus Sicht einer Reporterin.
- Die Inszenierung verzichtet auf explizite Gewaltdarstellungen und setzt stattdessen auf die Vorstellungskraft des Publikums, während zentrale Erlebnisse wie eine Vergewaltigung am Tahrirplatz die Entwicklung der Hauptfigur prägen.
- Die Produktion ist eine Zusammenarbeit mit der Berliner Schaubühne, weitere Aufführungen finden am 6., 7. und 8. Juni im Odeon statt.