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Mathematik und Massenpsychologie: "Die Inkommensurablen"

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Inkommensurabel ist etwas, das aufgrund fehlender Gemeinsamkeiten nicht vergleichbar ist. "Die Inkommensurablen" heißt der neue Roman von Raphaela Edelbauer, der am kommenden Donnerstag im Wiener Literaturhaus präsentiert wird. Und fast möchte man sagen: Mit ihren bisherigen Erfolgen, der Tiefenbohrung in der morschen Heimat in "Das flüssige Land" (2019) und der 2021 mit dem Österreichischen Buchpreis gekrönten High-Tech-Dystopie "DAVE" ist das neue Buch inkommensurabel.

Die 1990 geborene Wienerin begibt sich, ebenso wie der 17-jährige Tiroler Bauernknecht Hans Ranftler zu Beginn ihres Romans, in das Wien des Jahres 1914. Es ist Ende Juli. In wenigen Stunden läuft das Ultimatum ab, das Deutschland in der durch das Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajevo ausgelösten Weltkrise an Russland gestellt hat. Jeder erwartet den Krieg, viele sehnen ihn gar herbei. Hans weiß mit dieser Begeisterung nicht viel anzufangen.

Der eigentlich bürgerlich Aufgewachsene und durch den Tod seines Vaters sozial Abgestiegene möchte eine Psychoanalytikerin aufsuchen, von der er Aufklärung über seine Fähigkeit erhofft, Dinge zu hören, die in seiner Umgebung erst kurze Zeit später gesagt werden. Bei ihr trifft er auf die sozialistische Studentin Klara, die als Suffragette für Frauenrechte kämpft und als Mathematikerin einen Tag vor ihrem Rigorosum steht, und auf ihren adeligen Kameraden Adam, der weiß, dass er am nächsten Tag bei der Mobilmachung einzurücken hat - der strenge Vater duldet keine Widerrede.

Die sehr schnell und recht unglaubwürdig zustande gekommene innige Freundschaft der drei jungen Leute steht im Zentrum einiger Handlungsstränge, die sich zu einem großen Geflecht verbinden sollen. "Es gab ein unüberschaubar großes Gewebe, in das sie alle in wüsten Zöpfen und Verfilzungen eingewoben waren. Kein wohlgeordneter Kosmos, wie ihn sich die Griechen ersonnen hatten. Es war vielmehr ein Teppich, verklebt vom Kot der Verstorbenen und gesteift mit der Stärke eines metaphysischen Kleides."

Edelbauer erzählt vom gesellschaftlichen Albtraum, der sich im Taumel der Gefühle anbahnt, und sie erzählt von einer kollektiven Traumlandschaft, in der sich angeblich tausend Menschen immer wieder in unterschiedlichen Positionen wiederfindet und in der sich angeblich ausgerechnet Klara als einzige frei bewegen kann. Es ist die Zeit von Sigmund Freud und C.G. Jung, die Zeit der kleinen Hysterien und der großen Hypernervosität, die auf Entladung wartet.

Immer wieder versucht Edelbauer in Szenen und Rückblicken Stimmung und Atmosphäre dieser Zeit einzufangen, die sich bewusst war, dass etwas Altes, Überkommenes zu Ende ging und auf etwas Großes wartete, von dem man noch nicht wusste, ob es Segen oder Unheil bringen würde. Doch diesmal entwickelt ihre Geschichte bei der Lektüre keine Sogkraft, der man sich gerne ergibt. Zu konstruiert wirkt die Personenkonstellation, zu durchsichtig der Versuch, in dem gemeinsamen Traum bereits das kommende Grauen der Schlachtfelder abzubilden, auf denen schon in wenigen Tagen die Ersten fallen und denen in den kommenden Jahren Millionen in den Tod folgen werden.

Die Lebensgier, die dem Massensterben vorausgeht, fängt Edelbauer in einigen Szenen der Wiener Halb- und Unterwelt ein. Homosexuelles Treiben, schamlose Sitten in düsteren Kellergewölben treiben dem jungen Tiroler die Schamesröte ins Gesicht. Doch auch die alten, selbstherrlichen Militärs in ihren zu engen Uniformröcken, die ohne mit der Wimper zu zucken eine ganze Generation junger Männer dazu treiben, am Feld der Ehre zu sterben, haben ihren gelungenen Auftritt. Sprachlich wagt sich Edelbauer bei der Beschreibung von sozialem Elend und stumpf gewordenem k.u.k.-Glanz weit in den Manierismus.

"Die Inkommensurablen" verbindet Mathematik und Massenpsychologie, kollektive Sinnesverwirrung und nationale Raserei, Aufbruch und Untergang, kulminiert in zwei großen Vorträgen: In einem zwielichtigen Auftritt gibt ein weibliches Orakel dem faszinierten Publikum Rätsel auf, in der bereits von Chorstudenten belagerten Universität legt Klara ihr Rigorosum ab und spricht über Inkommensurabilität in der Mathematik. Der Vortrag wird gestört und endet im Tumult. Frauen gehören nicht als Wissenschafterinnen an die Uni, sondern als Krankenschwestern in die Lazarette, befindet die kriegstrunkene männliche Jugend.

Die Nation taumelt in Richtung großes Schlachten. Und auch Hans findet eine einfache Lösung für seine große Verwirrtheit und Leere. Er meldet sich freiwillig. Edelbauer schließt ihr Buch mit einer Hommage an Joseph Roth. "Die Inkommensurablen" enden mit dem Radetzkymarsch.

(S E R V I C E - Raphaela Edelbauer: "Die Inkommensurablen", Klett-Cotta, 352 Seiten, 25,70 Euro; Buchpräsentation: 19.1., 19 Uhr, Literaturhaus Wien, Wien 7, Seidengasse 13, Moderation: Daniela Strigl; Lesung: 24.1., 19 Uhr, Literaturhaus Graz, Elisabethstraße 30)

ribbon Zusammenfassung
  • Inkommensurabel ist etwas, das aufgrund fehlender Gemeinsamkeiten nicht vergleichbar ist.
  • "Die Inkommensurablen" heißt der neue Roman von Raphaela Edelbauer, der am kommenden Donnerstag im Wiener Literaturhaus präsentiert wird.
  • Die 1990 geborene Wienerin begibt sich, ebenso wie der 17-jährige Tiroler Bauernknecht Hans Ranftler zu Beginn ihres Romans, in das Wien des Jahres 1914.
  • Es ist die Zeit von Sigmund Freud und C.G.

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