Kafkas "Amerika" in Bregenz fast als rockiges Musiktheater
Was die Auseinandersetzung mit Franz Kafka (1883-1924) betrifft, ist das Vorarlberger Landestheater nicht zu spät dran. Schon im Jänner 2023, das heißt, noch bevor sich zahlreiche Bühnen dem Autor anlässlich des hundertsten Todestages widmeten, sah sich das Bregenzer Publikum in "Kafka in Farbe" von Max Merker und Aaron Hitz mit dem skurril humorvollen Potenzial in einigen von Kafkas Texten konfrontiert. Das Politische blieb dabei nicht außen vor und erfährt nun mit "Amerika" besondere Betonung.
Dabei geht es Niklas Ritter weder in seiner Textfassung noch in seiner Inszenierung um eine explizite Aktualisierung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelten Handlung. "Kafka erzählt so viel über die moderne Welt, dass ich das nicht überdeutlich verfestigen musste", bemerkte er im Gespräch mit der APA. Parallelen zu heute finde man genug. Klar erkennbar sind sie beispielsweise, wenn ein Polizist mit martialischem Befehlston die Ausweispapiere des zum Gelegenheitsarbeiter abgestiegenen Roßmann verlangt und bei Nichtvorlage selbiger somit die Abschiebung droht.
Dialoge und Erzählungen verzahnt Niklas Ritter bühnenwirksam dicht und weitgehend getreu der Abfolge in den unter dem Titel "Der Verschollene" oder eben "Amerika" gesicherten Romanfragmenten ineinander. Viel mehr als Kittwerk ist die von Oliver Rath geschaffene Musik, die er mit seiner exzellenten Band live bietet. Aufgrund der hohen Qualität der Singstimmen von Isabella Campestrini, Elzemarieke de Vos und Nico Raschner und mit den der Handlung angepassten Songtexten kommt sie derart oft und auch derart gut zur Geltung, dass diese Produktion beinahe als rockiges Musiktheater mit Sprechpassagen bezeichnet werden kann.
Auf viel Körpereinsatz setzt Niklas Ritter ohnehin und mit Nurettin Kalfa hat er einen kongenialen Künstler für eine Intention, die in Karl Roßmann den in die Welt Geworfenen sieht, der angesichts der Umstände, das heißt, eines Hyperkapitalismus kaum Möglichkeiten findet, sein Leben zu gestalten. Dem Verrückten, Absonderlichen, dem Humorvollen und Obszönen mit Slapstick zu begegnen, ist nicht neu, auch der erwähnte Max Merker hat diesbezüglich Maßstäbe gesetzt. Die Kompaktheit im Spiel, die das Ensemble an den Tag legt, die sprachliche Versiertheit bis hin zur Lautmalerei, mit der sich ein Beatboxing-Contest gewinnen ließe, verleiht diesem "Amerika" jedoch besonderes Format.
Wandlungsfähige Ausstattung
Neben dem fulminanten Protagonisten Nurettin Kalfa sind Isabella Campestrini, Elzemarieke de Vos, Nico Raschner, David Kopp und Roman Mucha in mehreren Rollen im Einsatz, jeweils stark präsent und so wandlungsfähig wie die Ausstattung von Karoline Bierner, die folgerichtig nur aus ein paar Koffern besteht. Unterschiedlich groß und unterschiedlich eingesetzt sind sie ein Zimmer, ein Lift, das Podium der Freiheitsstatue, oder ein Hochhaus, deuten das Ausgeschlossensein oder die Beengtheit an. Nach absurd witziger Bürokratie in Kafkas "Oklahoma", einer Art Jenseits, in dem jeder willkommen ist, gleicht das abrupte Ende von Karl Roßmann einer guten Straffung.
Leicht gelichtete Publikumsreihen lassen den Schluss zu, dass sich manche vielleicht schon zuvor ein paar Kürzungen gewünscht haben, mit starkem Applaus bekundete der größere Teil, dass drei Stunden für diesen Kafka durchaus adäquat sind.
(Von Christa Dietrich/APA)
(S E R V I C E -"Amerika" nach Franz Kafka, in der Fassung von Niklas Ritter. Regie: Niklas Ritter; Ausstattung: Karoline Bierner; Musik: Oliver Rath. Mit Nurettin Kalfa, Roman Mucha, David Kopp, Nico Raschner, Isabella Campestrini und Elzemarieke de Vos. Weitere Aufführungen am 20. Mai sowie am 15., 18., 20. und 21. Juni am Vorarlberger Landestheater in Bregenz: www.landestheater.org)
Zusammenfassung
- Das Vorarlberger Landestheater in Bregenz zeigt Kafkas "Amerika" in einer Inszenierung von Niklas Ritter, die am Samstagabend Premiere feierte und mit drei Stunden Spieldauer vom Großteil des Publikums mit starkem Applaus aufgenommen wurde.
- Die Produktion setzt auf eine nahezu rockige Musiktheater-Atmosphäre mit Livemusik von Oliver Rath und herausragenden Gesangseinlagen von Isabella Campestrini, Elzemarieke de Vos und Nico Raschner.
- Politische Dimensionen wie Polizeigewalt und drohende Abschiebung werden ohne explizite Aktualisierung der Handlung thematisiert, während das reduzierte Bühnenbild aus wenigen Koffern vielfältig eingesetzt wird.