Immersive Theaterinstallation beeindruckt bei den Festwochen
Wer schon einmal an einer ihrer immersiven Theaterarbeiten teilgenommen hat, weiß ungefähr, was ihn erwartet: Signa und Arthur Köstler geben klare Spielregeln vor. Wer sich ganz auf sie einlässt, hat am meisten davon. Diesmal lautet die Vorgabe: Spüren statt spielen. Und schon bald staunt man, mit welcher Ernsthaftigkeit und Hingabe manche Besucher mitmachen. Die Grenzen zwischen Akteuren und Gästen verschwinden mitunter.
Die 60 Besucherinnen und Besucher, die von rund 40 Performerinnen betreut werden, werden gebeten, sich mit ihren Kleidern auch ihres gegenwärtigen Ichs zu entledigen und mit einem Pflegeheim-Outfit samt Patschen und Brustbeuteln ihr "pflegebedürftiges Ich" anzunehmen. Das hört zwar auf einen anderen Namen, den man sich wie eine Startnummer umzubinden hat, soll sich aber ungefähr so anfühlen, wie man sich am Ende seines Lebens fühlen könnte.
Die schlechte Nachricht lautet: Das fühlt sich müde, ausgelaugt, gebrechlich und verwirrt an. Die gute Nachricht: In dem Pflegeheim, das hier von der Firma Lethe simuliert oder betrieben wird, darf man sich ganz gut betreut fühlen. Die eher heruntergekommenen Räume des alten Funkhauses, die den perfekten Schauplatz abgeben, werden wettgemacht durch eine empathische Crew an Pflegern und Ärztinnen, die einen mental und körperlich unterstützen. Bösartige oder gleichgültige Pflegekräfte begegnen einem nicht. Hoffentlich sieht die Realität nicht anders aus.
Demenzstation oder Psychiatrie?
Kleine Unregelmäßigkeiten haben sich freilich im Betrieb breitgemacht. Unter der Buddel wird ein Schnapshandel betrieben, und mehrmals lassen sich Anzeichen von sexuellem Missbrauch finden. Arthur Köstler, der österreichische Teil der SIGNA-Leitung, legt seine Rolle da recht eindeutig an. Je mehr psychiatrisch auffällige Patienten einem begegnen, umso mehr schleichen sich Zweifel ein, ob man sich wirklich auf einer reinen Demenzstation befindet. Das Uneindeutige ist SIGNAs Stärke und Schwäche zugleich.
Die äußeren Unruhen, die durch Kanonengrollen und Hundegebell über Lautsprecher dauerpräsent sind und mehrmals zu Hektik und Evakuierungsmaßnahmen auf der Station führen, wirken hingegen aufgesetzt. Aus Andeutungen und Nachfragen lässt sich ein Szenario zusammensetzen, wonach draußen Bürgerkrieg geführt wird. Rechte, autoritäre Kräfte wollen eine "neue Ordnung" etablieren, andere halten dagegen. Man habe das seit Jahren kommen gesehen, doch nie etwas dagegen unternommen, erzählt die Tochter.
Besuch von der eigenen Tochter
Die Tochter? Ja, es zählt zu den berührendsten Momenten des Abends, wenn auf den Gängen plötzlich wildfremde Menschen freudestrahlend auf die Insassen zugehen und sich als der eigene Nachwuchs, der auf Besuch gekommen ist, zu erkennen geben. Was aus dieser Ausgangssituation gemacht wird, liegt einzig an den zwei handelnden Personen, die einander in einem Dialog begegnen können, der eine Gratwanderung zwischen geskriptet und improvisiert, Spiel und Wahrheit ist. "Wir haben uns doch versprochen, einander nie zu belügen", sagt die Tochter. Dieses Zwiegespräch im "eigenen" Pflegebett ist die intimste Begegnung in einer Reihe von Situationen, die von hoher Emotionalität bis ermüdendem Leerlauf alles beinhaltet - auch Gymnastik, Singen und Fußmassage.
Auch das Abschiednehmen wird an dem Abend geübt, und manchem Teilnehmer kommen dabei tatsächlich die Tränen. Was einem nach dem Abschied vom eigenen Leben erwartet, weiß man nach diesen sechs Stunden noch immer nicht. Man hat bloß die Hoffnung: Möge das Jenseits nicht so aussehen wie die Schlussszene von "Das letzte Jahr". Dafür hat sich der Himmel hoffentlich etwas Besseres einfallen lassen.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - SIGNA: "Das letzte Jahr", Funkhaus, Konzept, Text, Regie: Signa Köstler, Nächste Vorstellungen bei den Wiener Festwochen: 18., 19., 20., 24.-27.5., www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Die immersive Theaterinstallation "Das letzte Jahr" von SIGNA führt 60 Besucherinnen und Besucher in einer sechsstündigen Simulation im Funkhaus an das Ende ihres Lebens.
- Rund 40 Performerinnen betreuen die Teilnehmer, die in Pflegeheim-Outfits schlüpfen und eine Atmosphäre zwischen Empathie, Unregelmäßigkeiten wie Schnapshandel und angedeuteten Bürgerkriegsszenarien erleben.
- Zu den emotionalsten Momenten zählen persönliche Begegnungen, etwa mit der "eigenen Tochter", wobei echte Tränen beim Abschiednehmen fließen; weitere Vorstellungen finden am 18., 19., 20. sowie 24.-27. Mai statt.