Ernie Reinhardt ist 70: Der Mann, der Lilo Wanders ist
Dort hat Reinhardt im von ihm mitgegründeten Schmidt Theater als platinblonder Travestiestar jahrelang für ausverkaufte Shows gesorgt. Dem Fernsehpublikum ist "die Wanders" vor allem als (S)Expertin der einstigen Vox-Sendung "Wa(h)re Liebe" ein Begriff. Zehn Jahre lang - 1994 bis 2004 - plauderte sie entspannt, ehrlich, charmant und frech über Pornofilme, Swingerclubs, erotische Praktiken und vieles mehr. Am Montag (22. September) wird Ernie Reinhardt 70 Jahre alt.
Und statt Lehnstuhl und Seniorengymnastik konzentriert sich der Schauspieler aufs Packen von Umzugskisten - und plant viele Lesungen im Norden Deutschlands. "Es ist mal wieder ein weiterer Aufbruch", sagt Reinhardt der dpa in Hamburg. Der Travestiekünstler hat gerade seinen Bauernhof in Niedersachsen vor den Toren der Hansestadt verkauft. Er wirkt dabei gelöst. In den vergangenen Monaten hat er viel geschafft, sich mit sich selbst und seinem Leben auseinandergesetzt.
Bereits am heutigen Mittwoch (17. September) stellt Reinhardt - homosexuell, dennoch seit 1985 in offener Ehe mit seiner Frau Brigitte lebend und Vater von drei erwachsenen Kindern - in Hamburg seine Autobiografie "Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?" (Goldmann Verlag) vor. Viele Medientermine stehen an. Seinen Geburtstag feiert er groß bei einer Gala in Frankfurt (Oder). "Das hätte ich auch mal nicht gedacht, dass mein Leben noch mal so an Fahrt aufnimmt", sagt Ernie Reinhardt lachend.
Aus der Provinz ins Scheinwerferlicht
Und wie geht es ihm bei alledem? "Es klären sich gerade so viele Dinge. Ich bin permanent unterwegs", sagt er kurz vor seinem 70. Geburtstag. Dazu passt, dass der Künstler auch ein neues Bühnensolo fast fertig hat. So nach und nach wolle er sich allerdings, dem Alter geschuldet, wohl doch zurückziehen, merkt er an. In seinen angenehm unprätentiös und spürbar offen geschriebenen Memoiren – und auch im Gespräch - erlebt man Reinhardt als hochsensiblen, überraschend schüchternen und sich oft nicht geliebt fühlenden Menschen. Der nach einer von Todesfällen, emotionaler Kälte im Elternhaus und Armut beschatteten Mittelstandsjugend den Weg zur Diva fand.
Wobei ihm die Bewusstwerdung, ein schwuler Bub zu sein, in der Lüneburger Heide nicht gerade leicht fiel. "Ich habe irgendwann entdeckt, wenn ich jemand anderes bin, kann ich 'ich' sein. Deshalb der Wunsch, zur Bühne zu gehen", erklärt der Künstler der dpa. "Und ich weiß auch, was Depression und grundlegende Einsamkeit heißt, immer wieder. Aber dann tritt das mir anerzogene Pflichtgefühl hinzu - das Dem-nicht-nachgeben-dürfen."
Ein Segen war deshalb die Wertschätzung, die er auf der Bühne erleben durfte. Erfolg und die Zuneigung der Menschen hätten ihm mehr Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit geschenkt, verrät der Entertainer mit seiner hell klingenden Stimme. Reinhardt ist auch Initiator, Mitbegründer und Vorstand der "Come Out! Stiftung" (Mülheim), die seit 2021 junge Menschen in ihrem Anderssein unterstützt.
Subversiv mit Herz und Witz
Doch der Weg noch oben war lang und steinig. Ein Suizidversuch mit 18 Jahren war der Tiefpunkt seiner frühen Jahre. Später begann Reinhardt, bis heute eine Leseratte, in Hamburg ein Studium der Bibliothekswissenschaft, das er abbrach. In der Hansestadt erkundete er die Schwulenszene der 1970er - auch in ihren politischen Kampf. Sang im Tunten-Chor, traf den Aktivisten Corny Littmann, spielte mit ihm in der freien Gruppe "Familie Schmidt". Was am 8.8.1988 zur Gründung der Kiez-Bühne Schmidt Theater nahe der Reeperbahn führte. Dort erblickte auch Lilo Wanders das Licht der Welt - Reinhardt gestaltete sie zunächst als schrille Karikatur der Kriegs- und Nachkriegssängerin Künneke ("Sing, Nachtigall, sing").
Lilo Wanders ist ein Abbild seines inneren Selbst
Für die zur Nachtstunde laufenden "Wa(h)re Liebe"-Episoden entwickelte der Künstler "die Wanders" aber weiter, gestaltete sie vielschichtiger und warmherziger – letztlich als Abbild seines eigenen inneren Selbst, sagt Reinhardt. Denn in den Sendungen, in denen er einige der schlüpfrigen Beiträge durchaus als grenzwertig empfand, wollte er respektvoll auftreten.
Aufklären, Vorurteile abbauen, auch Provozieren – ja. Aber eben subversiv auf amüsante Weise. "Ich wollte das nicht mit der Keule machen", erinnert sich der Moderator, "und bin ohnehin kein Kämpfer. Obwohl mein Herz links schlägt." Mit charmantem Wanders-Lachen sagt er: "Man braucht Empathie und Humor für so ein Unterleibs-Magazin. Ich hatte immer den gesunden Abstand eines Leichenwäschers."
Liebe - eine Berührung der Seelen
Und was versteht Reinhardt heute unter wahrer Liebe? "Selbstaufgabe ist es nicht", antwortet der 69-Jährige, "eher, dass sich zwei Seelen berühren - kurz- oder längerfristig." Tiefe Verbundenheit mit einem Mann habe er im Leben dreimal erfahren – und danach jahrelanges Herzensleid.
Wie sieht er denn die Beziehung zwischen Liebe und Sex? "Sex kann sein wie ein Besuch im Imbiss – schnell den Hunger gestillt und danach vergessen. Mein Bestreben ist das nicht", sagt Reinhardt, "aber natürlich habe ich Verständnis dafür - wenn alle Beteiligten es wollen." Und der bald 70-Jährige fügt hinzu: "Aber wenn man einmal das andere erfahren hat, also das zelebrierte Dinner, dann ist einem auch klar, dass das eine Stufe darüber ist."
Zusammenfassung
- Ernie Reinhardt, bekannt als Lilo Wanders, feiert am 22. September seinen 70. Geburtstag und blickt auf eine jahrzehntelange Karriere als Travestiekünstler zurück.
- Als Moderator der Sendung "Wa(h)re Liebe" von 1994 bis 2004 wurde er mit seiner Kunstfigur bundesweit bekannt und prägte das Bild der offenen Sexualaufklärung im deutschen Fernsehen.
- Reinhardt lebt seit 1985 in einer offenen Ehe mit seiner Frau Brigitte, ist Vater von drei erwachsenen Kindern und engagiert sich seit 2021 als Mitbegründer der "Come Out! Stiftung".
- Nach dem Verkauf seines Bauernhofs in Niedersachsen plant er zahlreiche Lesungen im Norden Deutschlands und stellt aktuell seine Autobiografie "Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?" vor.
- In seinen Memoiren beschreibt Reinhardt, wie er trotz schwieriger Kindheit, Depressionen und einem Suizidversuch mit 18 Jahren seinen Weg zur Bühne und zu sich selbst fand.