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Energiegeladene Premiere eines Broadway-Erfolgs in Linz

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"Natascha, Pierre und der große Komet von 1812" beginnt ungewöhnlich und unvermittelt mit dem Einzug der Darsteller durch den Zuschauerraum und endet genauso. Dazwischen erstreckte sich bei der Europäischen Erstaufführung am Samstag in Linz über rund zweieinhalb Stunden ein energiegeladenes, abwechslungsreiches, reflektierendes, sich selbst als "Elektropop-Oper" bezeichnendes Musical, das zwar wenig mit Leo Tolstois Vorlage zu tun hat, aber allemal einen Besuch wert ist.

Im Wesentlichen gibt es zwei Handlungsstränge des Stücks, das auch am Broadway bereits für Furore sorgte: das Liebesleben der Protagonistin Natascha sowie die Sinnsuche des zweiten Titelgebers Pierre. Das Stück aus der Feder von Dave Malloy greift damit einen kleinen Teil aus Leo Tolstois Werk "Krieg und Frieden" heraus, lässt aber die historischen Bezüge und kriegstaktischen Erläuterungen fast zur Gänze weg. Im "Prolog" werden die handelnden Charaktere kurz vorgestellt, es dauert aber mitunter trotzdem ein wenig, in die Handlung hineinzufinden.

Mit ein Grund dafür mag sein, dass sich das recht ungewöhnlich konstruierte, beinahe halsbrecherische Bühnenbild im Laufe des Abends so gut wie nicht ändert. Ob nun Wohnhaus, Club, Kutschenfahrt oder Oper: Die konkrete Kulisse muss sich das Publikum im Linzer Musiktheater selbst dazudenken. Dafür bietet es Platz für das neunköpfige Orchester (musikalische Leitung: Tom Bitterlich) im oberen Bühnenteil, das so - als Studierstube Pierres - auch in die Handlung miteingebunden wird. Ähnlich wenig Wechsel wie auf der Bühne gibt es bei den Kostümen (beides von Andrew D. Edwards), was umgekehrt die Wiedererkennung der Charaktere vereinfacht.

Von den Musicaldarstellerinnen und -darstellern, den "Roving Musicians", den Tänzern und dem Orchester verlangt der Abend Multitasking: Musiker bewegen sich mit ihren Instrumenten hüpfend und tanzend über die Bühne, Tänzer singen und Pierre, verkörpert von Christian Fröhlich, spielt sowohl Akkordeon als auch Klavier. Gesprochenes Wort kommt im Grunde nicht vor; die ganze Handlung wird in Musikstücke verpackt erzählt. Gefühlvolle Balladen wechseln dabei mit energiegeladenen, ja bisweilen frenetischen Tanznummern (Choreografie: Kim Duddy), an deren Ende so mancher Gast im Publikum erst einmal durchatmet.

Die Liste der unterschiedlichen Klänge, die der Musicalabend bietet, ist schier endlos: Elektronische Sounds, singende Gläser, traditionelle russische Klänge, Elektropop, Balladen - ja auch dissonante Sequenzen sind dabei. Dabei strahlt das gesamte Ensemble eine beeindruckende Dynamik aus: Hanna Kastner gibt die junge Natascha, Christian Fröhlich den nachdenklichen Pierre. Gernot Romic ist der Frauenheld Anatol, und Judith Jandl Nataschas vernünftige Cousine Sonja. Daneben sind unter anderem auch Sanne Mieloo (Marja D.), Daniela Dett (Hélène) und Lukas Sandmann (Dolochow) zu sehen.

Ein paar Parallelen zu Tolstoi sind bei näherer Betrachtung dann doch zu finden: In dem durchkomponierten Stück beschreiben die Charaktere immer wieder ihre eigene Gedanken- und vor allem Gefühlswelt oder auch die anderer - bisweilen reden sie dabei auch von sich selbst in der dritten Person. Und wie bei Tolstoi fließen auch französische Textpassagen, insbesondere aus dem Mund von Daniela Dett alias Hélène, ein - charakteristisch für die Sprache der Oberschicht im Russland des 19. Jahrhunderts.

Doch während Nataschas Liebesleben bei Tolstoi aufgelöst wird, bleibt im Musical offen, wie es mit ihr - von den beiden Männern, die sie liebte, verlassen - weitergeht. Ein kleines Happy End gibt es aber doch, denn Pierre deutet den Kometen am Ende (der in Wirklichkeit 1811 und nicht 1812 zu sehen war) als positives Omen für seine Zukunft: "Dieser Stern entspricht perfekt der neuen Welt, die in mir erblüht."

"Natascha, Pierre und der große Komet von 1812" ist laut Selbstdefinition eine "Elektropop-Oper", in Wirklichkeit ist das Musical aber schwer in eine Beschreibung zu pressen. Von Premierenpublikum gab es Beifall, Standing Ovations aber erst im zweiten Anlauf. Die Aufforderung des Ensembles zu Beginn "Und lest! Lest Tolstoi!" ergeht wohl an eine andere Zielgruppe als das Musical selbst. Wer also Tolstoi erwartet, wird womöglich enttäuscht werden. Wer die Vorlage hingegen geistig beiseite schiebt und sich auf das Bühnenerlebnis einlässt, erlebt im Musiktheater am Volksgarten einen kurzweiligen Musicalabend der etwas anderen Art, der nach der Pause fast zu schnell vorbei ist.

(S E R V I C E - "Natascha, Pierre und der große Komet von 1812" von Dave Malloy, Inszenierung: Matthias Davids, musikalische Leitung: Tom Bitterlich, Choreografie: Kim Duddy, Dramaturgie: Arne Beeker, Bühne und Kostüme: Andrew D. Edwards. Mit u.a. Hanna Kastner (Natascha), Christian Fröhlich (Pierre), Gernot Romic (Anatol), Judith Jandl (Sonja), Sanne Mieloo (Marja D.), Daniela Dett (Hélène), Lukas Sandmann (Dolochow), Weitere Vorstellungen am 21. Februar, 7., 9., 15., 17., 18. März, 21., 30. April, Musiktheater Linz, Großer Saal,19.30 Uhr. www.landestheater-linz.at)

ribbon Zusammenfassung
  • "Natascha, Pierre und der große Komet von 1812" beginnt ungewöhnlich und unvermittelt mit dem Einzug der Darsteller durch den Zuschauerraum und endet genauso.
  • Im Wesentlichen gibt es zwei Handlungsstränge des Stücks, das auch am Broadway bereits für Furore sorgte: das Liebesleben der Protagonistin Natascha sowie die Sinnsuche des zweiten Titelgebers Pierre.
  • Von Premierenpublikum gab es Beifall, Standing Ovations aber erst im zweiten Anlauf.