APA/Volkstheater Wien

"Einsame Menschen": Starker Abend am Volkstheater Wien

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Normalerweise stimmt der Einsatz von viel Bühnennebel misstrauisch: Am Theater wird hinter dem äußeren Effekt mitunter eine gewisse inhaltliche Leere verborgen. Im Volkstheater Wien bedecken die wabernden weißen Wolken mehrmals den Bühnenboden. Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" wirken darin wie Flugkörper, die sich stetig voneinander entfernen. Frei von Bindungen und Konventionen. Und doch schrecklich verzweifelt. Es ist die bisher beste Produktion der neuen Direktion.

Der zweistündige Abend setzt nicht mit großer Geste auf Überrumpelung, betont nicht ständig seine Modernität. Er lässt sich nicht von den Möglichkeiten der Technik treiben, sondern rückt seine Figuren in den Vordergrund. Das gelingt vorzüglich - obwohl oder weil bei der Umsetzung dieses 1890 geschriebenen Dramas kein Regie-Zampano am Werk ist. "Jan Friedrich, Kay Voges und Ensemble" seien für die szenische Gestaltung des Abends verantwortlich, ist zu lesen - also der neue Direktor, ein junger Regisseur, der "Zeitgenössische Puppenspielkunst" an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin studierte und nun auch als Autor, Dramaturg, Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner arbeitet, und ein Darsteller-Sextett, das zeigen kann, was es drauf hat.

Zwei riesige, nur grob aus Karton ausgeschnittene Hände erheben sich an den Bühnenseiten anklagend Richtung Himmel, dahinter stehen ein paar große Blumen in derselben Ästhetik. Es könnte paradiesisch sein auf diesem Garten-Grundstück am Müggelsee außerhalb von Berlin, doch alle sind unglücklich. Die 22-jährige Käthe Vockerat klammert sich verzagt an ihr zum Bündel geschnürtes Neugeborenes - eine statuengleiche Madonna mit dem Kinde, die von ihrem Mann erstaunlich offen missachtet wird. Johannes Vockerat ist nämlich Gelehrter und hat mächtig viel zu denken. Auch seiner Mutter, eigentlich nur zur vorübergehenden Unterstützung der Schwiegertochter nach der Geburt angereist, wundert sich über die gering schätzende Art ihres Sohnes.

Der Gipfel scheint erreicht, als er einer auftauchenden Studentin, die den bei Familie Vockerat gastfreundlich aufgenommenen Maler Braun besuchen kommt, seine Gattin vorstellt: "Und das ist meine Frau Käthe mit ihrem Kind." Doch es geht noch weiter: mit einem Lichtblitz etwa, der den unverstandenen Denker durchzuckt, als die neu Hinzugekommene auf seine ausschweifenden Ausführungen wie beiläufig antwortet: "Ach, Epikur!" Und schon hat es Klick gemacht. Ab da sind die beiden unzertrennlich. Und können tolle Gespräche führen, während "Frau Käthe" danebenstehend verkümmert.

Im Volkstheater hat man die religiösen und weltanschaulichen Konflikte, die in dem Stück verhandelt werden, etwas beiseitegeschoben um Platz zu schaffen für das menschliche Drama. Die zentrale Dreieckskonstellation ist im Volkstheater hervorragend besetzt: Nick Romeo Reimann ist als Johannes mehr gnadenloser Egoist als begnadeter Intellektueller. In seiner selbstmitleidigen Selbstbezogenheit setzt er einem geschlechtsspezifischen Verhalten ein unschönes Denkmal, das in heutiger Zeit glücklicherweise zwar ziemlich bröckelt, vielerorts aber noch immer ziemlich robust dem Zerfall widersteht. Dass er sich um Verständnis heischend immer wieder direkt ans Publikum wendet, weitet seinen Fall ins Exemplarische.

An seiner Seite bekommt Anna Rieser als Käthe tragische Größe. Immer wieder fordert sie von ihrem Mann Verantwortung und Verständnis ein. Obwohl sie ständig als Dummchen ohne eigenen Antrieb hingestellt wird, ist sie zu Klarheit und Einsicht fähig. Nicht zuletzt die Rivalin führt ihr dieses Missverhältnis vor Augen: "Fräulein Anna hat schon Recht: Wie leben in einem Zustand der Unterdrückung!" Dieses Fräulein Anna hat in Gestalt von Gitte Repin einen hinreißenden Auftritt: eine an Jane Birkin erinnernde Diva in grellgelb, mit Sonnenbrille, Überheblichkeit und Exaltiertheit. Zunächst weiß sie gar nicht recht, was sie hier draußen am Land soll, dann findet sie aber rasch ihre Bestimmung: als Zecke, die sich unbekümmert an ihren Wirten vollsaugt.

"Die durchtriebene Kokette" wird die Blutsaugerin von "Mutti" Vockerat genannt, nachdem sie als erste das böse Spiel durchschaut hat und anfängliches Wohlwollen und Bewunderung für die Studierte, die sich so frei durchs Leben bewegt, in Antipathie umschlägt. Anke Zillich bringt die Wandlung ihrer Einschätzung eindringlich über die Bühne und leistet sich dabei ein paar hübsch ins Absurde vergrößerte Auszucker, die ihr angegriffenes Nervenkostüm blank legen. Claudio Gatzke bleibt als Maler Braun, der ähnlich wie sein Freund Johannes nur redet und nie ins Tun kommt, trotz energischen Auftretens ein wenig farblos, Stefan Suske hat einen starken Auftritt als prinzipientreuer, strenger Vater, der seinen Sohn mit strenger Hand auf den Pfad von Tugend und Verantwortung zurückführen will.

"All the lonely people / Where do they all come from? / All the lonely people / Where do they all belong?", fragen sich die Beatles in ihrem Song, der an dem Abend einmal das Taumeln der Menschen in ihrer Verlorenheit untermalt. "Eleanor Rigby / Died in the church and was buried along with her name." Käthe Vockerat versucht am Ende, natürlich wieder im weißen Bühnennebel, noch einmal um ihren Mann zu kämpfen. Und verliert ihn. Anna ist weg, aber Johannes auch. Zurück bleiben Käthe und ihre Schwiegereltern. Und eine nach diesem Geschehen monströs wirkende Forderung. "Ja, Käthe! Und nun . . . nun mußt du auch wieder froh und glücklich werden."

Starker, langer Applaus für "Einsame Menschen", denen nur zu wünschen ist, dass sie dank großen Publikumszuspruchs nicht einsam bleiben werden.

(S E R V I C E - "Einsame Menschen" von Gerhart Hauptmann, Regie: Ensemble, Jan Friedrich, Kay Voges, Kostüm: Vanessa Rust, Musik: Felix Rösch. Mit: Stefan Suske - Vockerat, Anke Zillich - Frau Vockerat, Nick Romeo Reimann - Johannes Vockerat, Anna Rieser - Käthe Vockerat, Claudio Gatzke - Braun, Gitte Repin - Anna Mahr. Volkstheater Wien, Nächste Aufführungen: 1., 7., 12.10., Karten: 01 / 52 111-400, www.volkstheater.at)e

ribbon Zusammenfassung
  • Im Volkstheater Wien bedecken die wabernden weißen Wolken mehrmals den Bühnenboden.
  • Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" wirken darin wie Flugkörper, die sich stetig voneinander entfernen.
  • Ab da sind die beiden unzertrennlich.
  • Und können tolle Gespräche führen, während "Frau Käthe" danebenstehend verkümmert.
  • Starker, langer Applaus für "Einsame Menschen", denen nur zu wünschen ist, dass sie dank großen Publikumszuspruchs nicht einsam bleiben werden.

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