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"Die Erfindung" in Stuttgart: Thriller innerer Abgründe

Heute, 08:25 · Lesedauer 4 min

Viele kennen diesen Moment: Man will sich gerade hinlegen, da beginnen die Nachbarn zu trampeln, zu streiten oder zu feiern. Während andere sich die Ohren zustöpseln, oben läuten oder die Polizei rufen, lässt Clemens J. Setz das kinderlose Paar in seinem am Kammertheater Stuttgart uraufgeführten Stück "Die Erfindung" einen anderen Weg einschlagen: Um sich abzulenken, fingieren sie im Darknet einen Webshop, der Frauen mit amputierten Gliedmaßen anbietet. Ein schräger Abend.

"Die Erfindung" ist bereits das dritte Auftragswerk des Schauspiels Stuttgart an den Grazer Autor, der auch in seinen Romanen immer wieder die Grenzen des Vorstellbaren auslotet. Nun widmet sich der 42-jährige Träger des Büchner-Preises den Abgründen einer totgelaufenen Paarbeziehung. Im Zentrum stehen ein bärtiger, fahriger Mann namens C., mit dem Regisseur Lukas Holzhausen mehr als deutlich das äußere Erscheinungsbild des Autors zitiert, und dessen Freundin S., die anfangs noch versucht, dem Lärm aus der Nachbarwohnung etwas abzugewinnen. Als wäre es "das Geräusch von Schiffen im Hafen. So eine geborgene Geräuschkulisse", sinniert Katharina Hauter, während Marco Massafra mit den Augen rollt. Doch bald verstricken sich die beiden in Mordfantasien und debattieren über den Einsatz von Motorsägen und Giftgas, bis C. das Gespräch auf den Roman eines österreichischen Autors lenkt, was die Situation ins Absurde kippen lässt.

Jane Zandonai hat für diesen 100-minütigen Abend ein schickes Schlafzimmer geschaffen, das durch ein Aquarium vom dahinter liegenden Badezimmer getrennt ist. Im Bett liegend erzählt C. seiner Freundin von dem Roman "Wormed", dessen Hauptfigur im Dark Web einen Versandhandel für Frauen betreibt, die er gekidnappt und denen er Arme und Beine abgeschnitten hat. Kurzerhand beschließen die beiden, einen solchen Shop aufzusetzen, um zu sehen, was passiert. Mithilfe ihres Freundes Manfred (als nerdiger Katzenliebhaber: Michael Stiller) setzen sie ihre Idee in die Tat um, legen jedoch Wert darauf, dass der Shop auf den ersten Blick "fake" wirkt. Zudem müssen die potenziellen Käufer angeben, welche Wohnbedingungen sie für die Frauen schaffen. Als der Bestellbutton jedoch zu glühen beginnt und sie immer mehr E-Mails erhalten, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Sind diese Anfragen alle echt? Oder genauso "fake" wie das Angebot?

Realität und Fiktion verschwimmen

Setz, der für seinen Roman "Monde vor der Landung" 2023 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, nutzt die soziale Isolation des Paares, um Realität und Fiktion verschwimmen zu lassen. Abends im Bett lesen C. und S. einander die E-Mails der potenziellen Käufer vor, bezichtigen einander, diese Schreiben selbst verfasst zu haben und verstricken sich immer mehr in scheinbar harmlose Lügen, die jedoch die Vertrauensbasis der Beziehung zerstören. So mit sich selbst und den Anfragen aus dem Darknet beschäftigt, bemerken sie nicht, dass der Lärm aus der Nachbarwohnung versiegt ist. Stattdessen hören sie nun immer wieder ein Klopfen. Sind es mittlerweile sie, die mit ihren immer lauter werdenden Auseinandersetzungen Aufmerksamkeit erregen?

Mit ihrem intensiven Spiel der fragilen Emotionen, die jederzeit ins Kippen geraten können, machen Hauter und Massafra das Kammerspiel zu einem packenden Thriller der inneren Abgründe. Im Zentrum steht Setz' messerscharfe Sprache, unter deren Alltagsschleier das blanke Entsetzen wohnt. Die von diesem scheinbar unscheinbaren Paar geschaffene Realität, sei sie noch so "fake" intendiert, entwickelt ein Eigenleben aus Möglichkeiten, die man sich nicht ausmalen will. Herzlicher Applaus für einen Abend, der deutlich macht: Man sollte sich bei der nächsten Ruhestörung für Ohropax entscheiden. Langer, herzlicher Applaus für alle Beteiligten und den nicht zur Uraufführung angereisten Autor.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "Die Erfindung" von Clemens J. Setz im Kammertheater des Schauspiels Stuttgart. Regie: Lukas Holzhausen, Bühne: Jane Zandonai, Kostüme: Annabelle Gotha. Mit Katharina Hauter, Marco Massafra und Michael Stiller. Weitere Termine: 6., 11. und 13. Mai, 3., 15., 18., 19. und 20. Juni. www.schauspiel-stuttgart.de)

Zusammenfassung
  • Das Stück 'Die Erfindung' von Clemens J. Setz wurde im Kammertheater Stuttgart uraufgeführt und thematisiert die Abgründe einer totgelaufenen Paarbeziehung, die sich in einem Darknet-Experiment verstrickt.
  • Die Hauptfiguren, C. und S., fingieren einen Webshop für Frauen mit amputierten Gliedmaßen, inspiriert durch den Roman 'Wormed', und verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Realität und Fiktion.
  • Das 100-minütige Stück endet mit herzlichem Applaus und wird an mehreren Terminen im Mai und Juni aufgeführt.