APA/APA/Schauspielhaus Hamburg/Thomas Aurin

Castorf inszenierte Conrads "Geheimagent" in Hamburg

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Bei Frank Castorf haben sich die Inszenierungen coronabedingt ordentlich aufgestaut. Derzeit entladen sie sich fast im Monatsrhythmus, bevor es dann vielleicht bald wieder zu spät ist: Nach den September-Premieren von Elfriede Jelineks "Lärm" am Akademietheater und Peter Handkes "Zdenĕk Adamec" im Burgtheater feierte am Freitagabend am Schauspielhaus Hamburg die Dramatisierung von Joseph Conrads "Der Geheimagent" Premiere. Ein seltsam schaumgebremster Abend.

Eigentlich hätte die Handlung des 1907 erschienenen Romans des polnisch-britischen Schriftstellers (1857-1924) genug Dramatik, um auf der Bühne mehr als 100 Jahre später eine brauchbare Parabel auf Anarchismus, Terrorismus und Kapitalismus zu sein. Doch das fünfstündige Ergebnis dieser von sehr viel Theaternebel begleiteten Inszenierung weiß nicht so recht in seinen Bann zu ziehen. Hier treffen zu viel Text auf zu wenig Kohärenz und zu viele aus anderer Quelle eingewebte Passagen auf handlungsverzerrende Verkürzungen. Wahrlich bombastisch ist vor allem das Bühnenbild von Castorfs langjährigem Wegbegleiter Aleksandar Denić.

Dieser hat auf der Drehbühne ein düsteres London des späten 19. Jahrhunderts geschaffen, das an unterschiedlichsten Außen- wie Innenräumen mehr als reich bestückt ist. Einer der zentralen Schauplätze ist Downing Street Nr.10, wo im 20. Jahrhundert traditionell der britische Premierminister residieren wird. Hier ist es der Sitz einer Botschaft, in der der Geheimagent Verloc dazu angehalten wird, ein Bombenattentat zu verüben, das den Anarchisten - zu denen er selbst gehört - im Land in die Schuhe geschoben werden soll. Charly Hübner brilliert dabei in der Rolle des naiven Doppelagenten, der den Job nur macht, um seine Familie über Wasser zu halten.

Diese gehört zum armen Proletariat und kommt mit einem kleinen Laden, der pornografische Fotografien verkauft, eher schlecht als recht über die Runden. Die exaltierte Mutter (Angelika Richter) ist abgehauen und hat ihre erwachsene Tochter Winnie (Anne Müller) und deren debilen Bruder Stevie (Paul Behren) allein in London zurückgelassen. Winnie weiß nichts von den geheimdienstlichen Machenschaften ihres Mannes Verloc. Und als ihr über alles geliebter Stevie bei dem missglückten Bombenattentat auf das Observatorium von Greenwich ums Leben kommt, tötet sie zuerst ihren Mann und nach einer gescheiterten Flucht auch sich selbst. Was hinter den vielen verschlossenen Türen vor sich geht, lässt Castorf in bewährter Manier live auf eine riesige Leinwand projizieren. Ganz klar: Hier ist das Private hoch politisch.

Doch Castorf gibt sich mit diesem Sittenbild rund um revolutionäre Anarchisten, schwelende Terrorgefahr und Kritik am aufkommenden Kapitalismus nicht zufrieden. In langen Passagen verwebt er andere Texte Conrads, etwa kritische Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus aus der Erzählung "Das Herz der Finsternis". Und so bleibt den Zuschauern im Saal nichts anderes übrig, als das Geschehen über sich ergehen zu lassen, ohne immer nachvollziehen zu können, wohin die Reise nun geht (und warum). Da bleibt mehr als genug Zeit, das exaltierte Spiel von Anne Müller und Angelika Richter zu bewundern, wobei letztere gleich drei Rollen verkörpert. In knappen Outfits und mit allerlei Klimbim behängt geben sie ein Proletariat, das über seinen Verhältnissen lebt. Bemerkenswert ist auch das Spiel von Matti Krause, der aufgrund einer Erkrankung im Ensemble nicht drei, sondern gar vier Rollen zwischen Botschaftssekretär und Polizeiinspektor übernimmt, was er bei einem Hänger charmant kommentiert: "Was weiß ich, ich spiele das hier ja erst seit gestern."

Für viel Amüsement im Publikum sorgen auch die Auftritte von Josef Ostendorf, der als geheimnisvoller Botschafter Vladimir den Auftrag zum Anschlag gibt und später als schwuler Kriminaldirektor brilliert. Paul Behren verausgabt sich unterdessen in der Doppelrolle des debilen Stevie und eines fanatischen Bombenbauers, der zwischendurch am Keyboard französische Songs zum Besten gibt. Es sind die übermenschlichen schauspielerischen Leistungen, die dieser seltsam schaumgebremsten Castorf-Inszenierung ihren Charme verleihen, in der verhältnismäßig wenig geschrien und untypisch klar gesprochen wird. Doch das große Ganze kommt trotz der sich vielfach drehenden Bühne nicht recht vom Fleck, der Blick auf aktuelle Verhältnisse durch die Linse der Vergangenheit bleibt im Nebel stecken. Das Publikum spendete nach fünf Stunden (inklusive einer Pause) jedenfalls mehr als freundlichen Applaus und verlief sich bald. Im Hamburger Nebel.

(S E R V I C E - "Der Geheimagent" von Joseph Conrad am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki. Mit Paul Behren, Charly Hübner, Matti Krause, Anne Müler, Josef Ostendorf und Angelika Richter. Weitere Termine: 14. November, 5. und 19. Dezember sowie 2. und 29. Jänner. Infos und Karten unter www.schauspielhaus.de)

ribbon Zusammenfassung
  • Bei Frank Castorf haben sich die Inszenierungen coronabedingt ordentlich aufgestaut.

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