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Cannes-Siegerin Renate Reinsve ist "von der Angst getrieben"

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Renate Reinsve zählte heuer zu den Überraschungssiegerinnen in Cannes, als sie für Joachim Triers Frauenporträt "Verdens verste menneske" als beste Darstellerin des Festivals ausgezeichnet wurde. Nun fungiert die Charakterstudie als Abschlussfilm der heurigen Viennale. Aus diesem Anlass sprach die 33-jährige Norwegerin mit der APA über ihre Angst, als Hochstaplerin enttarnt zu werden, das Paradoxon der Wahl und ihre Oma, die einen Biker als Lover hat.

APA: Joachim Trier und Eskil Vogt haben das Drehbuch für "The Worst Person in the World" ("Verdens verste menneske") bereits mit Ihnen als Hauptfigur im Kopf geschrieben. Wie kam es zu dieser engen Beziehung?

Renate Reinsve: Ich habe Joachim ja schon vor zehn Jahren beim Dreh von "Oslo, 31. August" kennengelernt. Weil da ein spezielles Naturlicht gefragt war, hatte ich damals neun Drehtage, obwohl ich nur einen Satz zu sagen hatte!

APA: Solange Sie für neun Tage bezahlt wurden...

Reinsve: Wurde ich! Und das für den Satz "Let's go to the Party!" (lacht). Aber Joachim hatte wohl damals schon den Eindruck, dass ich eine gute Energie ans Set gebracht habe. Wir wurden zwar keine Freunde, waren seither aber gute Bekannte, die sich in Oslo immer wieder einmal über den Weg gelaufen sind und dann die schweren Fragen des Lebens diskutiert haben.

APA: Wie kam es aber, dass er für Sie gleich ein ganzes Projekt auf die Beine gestellt hat?

Reinsve: Ich habe mit wirklich tollen Theaterregisseuren gearbeitet - und an einigen wirklich miesen TV-Produktionen mitgewirkt. "Das war zwar scheiße, aber Du hast immerhin gut gespielt", hat Joachim damals oft gemeint und mich gedrängt, doch endlich mal eine Hauptrolle zu spielen. Da mir die nicht angeboten wurde, hat er schließlich eine für mich geschrieben und mich als Vorbild genommen.

APA: Es wäre ja meine persönliche Horrorvorstellung, wenn das Freunde mit mir machen würden...

Reinsve: Ich hatte auch richtig Schiss, als ich das Drehbuch bekommen habe. Wie sieht er mich? Und kann es funktionieren, wenn zwei Männer einen weiblichen Charakter schreiben? Als ich es dann aber gelesen habe, war mir schnell klar: Das fühlt sich zwar richtig an, handelt aber gar nicht nur von mir. Und ich wusste, dass ich das spielen kann. Julies Fragen und Geschichte sind für ganz viele Menschen relevant...

APA: Als Porträt einer Generation...

Reinsve: Das geht darüber hinaus! Sogar meine Großmutter hat solch ein Leben gelebt und jetzt einen neuen Lover - einen coolen Motorradfahrer. Und die ist über 80! Es geht allgemein um die Zeit, in der wir leben. Man kann aus unendlich vielen Möglichkeiten wählen - was den Job angeht oder die Männer respektive Frauen, die man sich aussucht. Das ist natürlich ein sehr privilegiertes Problem, aber zumindest im Westen ein Fakt. Hinzu kommen die Sozialen Netzwerke und die Nachrichten, die von allen Seiten auf einen einprasseln. Wir leben in einer sehr verwirrenden Welt.

APA: Wie kommt es, dass diese Freiheit der Wahl eher als Druck denn als Befreiung wahrgenommen wird?

Reinsve: Es gibt da den psychologischen Terminus des Paradoxon der Wahl. Wenn man zu viel Auswahl hat, wird man unruhig und unglücklich. Man wird immer unzufrieden sein mit der Wahl, die man getroffen hat.

APA: Empfinden Sie aus diesem Blickwinkel das Ende von "Verdens verste menneske" als positiv?

Reinsve: Man sieht am Ende Julie, die ihre Wahl getroffen hat, Fotografin geworden ist. Im Grunde ist es egal, welchen Weg sie eingeschlagen hat, Hauptsache sie hat einen eingeschlagen. Und das merkt man an ihrer Körperspannung, die loslässt, während sie sich selbst auf etwas konzentrieren kann. Das erste Mal im gesamten Film!

APA: Sie sind jetzt 33 Jahre alt und haben mit Ihrer ersten Hauptrolle gleich den Preis als beste Schauspielerin in Cannes gewonnen. Öffnet das Türen oder wird der Druck nun übergroß?

Reinsve: Diese Auszeichnung ist das größte Kompliment, das einem die Branche machen kann. Ich bin immer noch überwältigt und kann es nicht glauben. Aber zugleich muss ich mich beim nächsten Projekt bemühen, das alles zu vergessen und mit der weißen Seite neu zu beginnen.

APA: Kann das klappen?

Reinsve: Ich weiß es nicht. Ich werde jedenfalls versuchen, nicht am ersten Drehtag am Set allen zu erklären, dass ich hier die Weisheit mit Löffeln gefressen habe (lacht). Aber vielleicht bewirkt es, dass ich ein wenig mehr meinem eigenen Bachgefühl vertraue. Ich bin sehr von der Angst getrieben. Ich habe immer ein bisschen das Gefühl, dass jemand gleich draufkommt, dass ich eine Hochstaplerin bin und hier nur alles vorspiele und eine schlechte Schauspielerin bin.

APA: Zieht es Sie denn ins Ausland, oder wollen Sie dem norwegischen Kino verpflichtet bleiben?

Reinsve: Gute Regisseure gibt es überall. Und wenn man die machen lässt und sie ein gutes Drehbuch zur Verfügung haben, werde ich ein Projekt immer zusagen - wurscht wo, ob das Norwegen, Deutschland oder Österreich ist. Wichtig ist mir nur, dass ich in einem Film mitwirken kann, der auch anderen Menschen etwas bedeutet.

(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)

(ZUR PERSON - Renate Reinsve wurde am 24. November 1987 in Südnorwegen geboren und studierte nach der Schule Schauspiel an der Norwegischen Nationalen Theaterakademie in Oslo. Nach Abschluss 2013 begann sie ihre Theaterkarriere am Trøndelag Teater in Trondheim, bevor sie 2016 ans Det Norske Teatrat der Hauptstadt wechselte. Zugleich war Reinsve auch im Film tätig und spielte etwa Nebenrollen im Horrorfilm "Villmark Asylum" (2016), der Tragikomödie "Welcome to Norway" (2016) oder im Kinderfilm "Knerten" (2017). Heuer wurde sie schließlich bei den Filmfestspielen von Cannes für ihre Rolle der Julie in Joachim Triers "Verdens verste menneske" mit dem Darstellerpreis gewürdigt.)

ribbon Zusammenfassung
  • Renate Reinsve zählte heuer zu den Überraschungssiegerinnen in Cannes, als sie für Joachim Triers Frauenporträt "Verdens verste menneske" als beste Darstellerin des Festivals ausgezeichnet wurde.
  • Aus diesem Anlass sprach die 33-jährige Norwegerin mit der APA über ihre Angst, als Hochstaplerin enttarnt zu werden, das Paradoxon der Wahl und ihre Oma, die einen Biker als Lover hat.

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