APA/APA/Wiener Festwochen/Diana Pfaffmatter

"Blutstück" denkt bei den Festwochen das "Blutbuch" weiter

Kim de l'Horizons "Blutbuch" ist nach wie vor so etwas wie der Text zur Stunde, der seit seinem Erscheinen vor 2022 einen Erfolgslauf angetreten hat, zu dem unter anderem der Deutsche Buchpreis, aber auch zahllose Adaptationen für die Bühne gehören. Meist wird dabei der markanten Kunstsprache des nonbinären, schreibenden Ichs das Primat gelassen. Oder man denkt diese weiter, wie mit dem "Blutstück" am Samstag im Wiener Volkstheater, der ersten Premiere der Festwochen 2024.

Die treibende Kraft hinter dieser theatralen Reflexion über die literarische Reflexion des Körperkorsetts des Menschen ist Kim de l'Horizon selbst. Literatur ist einsam - ein Umstand, der letztlich zu diesem Abend geführt habe, macht die nach dem jüngsten Sieg von Nemo beim Eurovision Song Contest nur mehr zweitbekannteste nonbinäre Schweizer Person in ihrem solistischen Prolog deutlich. Als Partner in Crime steht hier die deutsche Regisseurin Leonie Böhm zur Seite, die in Kooperation mit dem Schauspielhaus Zürich einen Abend für fünf Menschen kreiert hat, die sich in einer Welt aus luftigen Tüchern, Pappmascheesteinen und einem aufblasbaren Penisbaum bewegen - eine ephemere Welt, die stets droht, in sich zusammenzufallen.

Die Improvisation spielt dabei eine wesentliche Rolle - was gleichsam den größtmöglichen Kontrast zum über zehn Jahre hinweg konzipierten Textkondensat des "Blutbuchs" darstellt. Das "Blutstück" ist gleichsam das Umblättern der letzten Seite, geht von der Bestandsaufnahme und Analyse hin zum Handeln und zum Ziehen von Konsequenzen. Es ist das bemühte Ringen, ein Wir herzustellen, eine Gemeinschaft, um mit den eigenen Ängsten nicht alleine zu sein.

Entsprechend ist "Blutstück" ein Abend, an dem man sich bewusst sein muss, dass die ersten sechs Reihen gefährlich sind, sollte man nicht allzu aktiv Teil der Theatergemeinschaft werden wollen. Das improvisatorische Einbinden des Publikums ist dabei nur folgerichtig im Hinblick auf Kim de l'Horizons Weltsicht, wonach alles und alle miteinander verbunden, Teil eines großen Netzes sind. Es geht um die Suche nach Verbindungen, die primär nicht-familiär sind und zugleich das Bestreben, eine Gemeinschaft zu begründen, die auch jene aufnimmt, die in ihr fehlen - die Großmeeren.

Dies ist einer der Begriffe, die aus der literarischen Vorlage auf die Theaterbühne übernommen wurden und nicht nur die Großmütter im Berner Deutsch bezeichnet, sondern alle Frauen der mütterlichen Linie, die über Jahrhunderte das Körpergedächtnis und die damit verbundenen Normen unwillentlich in die Nachfolgenden eingeschrieben haben. Konstatiert wird eine vermeintliche Schweigemauer über diesen Umstand, die dadurch durchlöchert werden soll, dass sich alle des Fremdkörpers, in dem sie sich befinden, gewahrwerden, dessen Grenzen im spielerischen Umgang überwinden - oder, wie es die Darstellenden ausdrücken, den Finger aus dem Arsch zu nehmen. "Ich möchte, dass wir mit einem freien Arsch durchs Leben gehen", heißt es an einer Stelle.

Schließlich bestehe der Körper zu 60 Prozent aus Angst. Und so versucht Lukas Vögler etwa in einer langen Soloimprovisation durch Mimikry in jeden verfügbaren Publikumskörper einzudringen, um durch Erspüren die eigenen Körpergrenzen zu überwinden. Es ist ein Abend der freien Assoziation, der in guten Momenten Glanzpunkte setzt und in schlechten Längen bereithält.

Vielfach tangiert das "Blutstück" eher das Genre der Gruppentherapie, Morenos Psychodrama denn herkömmliches Theater. Entsprechend hängt das Urteil voll und ganz am jeweiligen Mitglied des Publikums und der Frage, wie weit man sich dem therapeutischen Ziel öffnen (ver)mag. Ist das Ganze ein beständiges Kreisen um den eigenen Bauchnabel, als hätte die Welt von heute keine gewichtigeren Herausforderungen zu gegenwärtigen? Werden hier individuelle Probleme zu gesamtgesellschaftlichen gemacht? Oder befreit die neue Gemeinschaft aus dem patriarchalen Körpergefängnis?

Am Ende, so stellt Kim de l'Horizon im Schlussmonolog fest, während die Darmbakterien im Bauch sich über das Sushi vom Mittag hermachen, hätten sich in jedem Falle zumindest die Bakterien der einzelnen Menschen im Rund des Volkstheaters zu einer Gemeinschaft verbunden. Das reicht ja vielleicht auch.

(Von Martin Fichter-Wöß/APA)

(S E R V I C E - "Blutstück" nach Kim de l'Horizon im Rahmen der Wiener Festwochen, Volkstheater, Arthur-Schnitzler-Platz 1, 1070 Wien. Regie: Leonie Böhm, Bühne: Zahava Rodrigo, Kostüme: Mascha Mihoa Bischoff. Mit Vincent Basse, Gro Swantje Kohlhof, Kim de l'Horizon, Sasha Melroch und Lukas Vögler. Weitere Aufführungen am 19. und 20. Mai. www.festwochen.at/blutstueck)

ribbon Zusammenfassung
  • 'Blutstück', eine Weiterführung von Kim de l'Horizons 'Blutbuch', feierte seine Premiere im Rahmen der Wiener Festwochen 2024 am Wiener Volkstheater.
  • Die Inszenierung von Leonie Böhm zeichnet sich durch eine starke Einbindung des Publikums und improvisatorische Elemente aus, die das Publikum physisch und emotional fordern.
  • Thematisch kreist das Stück um Körperbewusstsein und die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, wobei die Aufführung als eine Mischung aus Theater und Gruppentherapie beschrieben wird.