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Barockoper "Ambleto": Schlachtfest unter Blutsverwandten

Heute, 06:18 · Lesedauer 3 min

Wenn am Ende die Regisseurin die Einzige ist, die beim Schlussapplaus auf der Bühne nicht blutverschmiert ist, steht Hamlet am Spielplan. Im Falle des Musiktheaters an der Wien "Ambleto". Francesco Gasparinis Barockoper, 1706 mutmaßlich in Unkenntnis der heuer leicht bekannteren Adaption durch einen gewissen William Shakespeare uraufgeführt, wird von Ilaria Lanzino zum modernen Familiendrama geformt. Netflix-Ästhetik, die das barockaffine Haus am Dienstag zum Toben brachte.

Dass diese Transponierung gelingt, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass heute zwar noch die Arien der Londoner Fassung des Scarlatti-Lehrers Gasparini vorhanden sind, nicht jedoch die Rezitative. Diese dramaturgische Lücke nutzt Lanzino, indem sie die musikalischen Passagen neu fasst, das Geschehen um manch zeittypische Verästelung bereinigt und näher an Shakespeares Text heranführt.

"Ambleto" zeigt dabei weniger den zaudernden Königssohn, der an der Ermordung seines Vaters durch dessen Bruder verzweifelt, als einen düsteren Akteur. Es gibt keinen Mord an Hamlets Vater, sondern einen derangierten Sohn, der dessen Tod und die Hinwendung seiner Mutter zum Onkel nicht verkraftet. Ein labiler, jedoch gewalttätiger Charakter, der am Ende Amok läuft und zum Vergewaltiger Ophelias, Serienmörder, dem Antagonisten schlechthin wird. Toxische Männlichkeit par excellence.

Filmische Ästhetik aus dem Heute

Lanzino positioniert diese mit einem Male erschreckend heutig erscheinenden Personen in der Jetztzeit. Die Bühne von Martin Hickmann unterstreicht die filmische Ästhetik durch schnelle Szenenwechsel dank Drehbühne. Und schließlich werden die komplexen Koloraturarien mit Sprechtexten konterkariert, die vom Band eingespielt werden, düster grundiert durch einen Elektrosoundtrack. Keine im Sprechtheater dilettierenden Sängerinnen und Sänger müssen sich durch diese Passagen mühen, sondern Schauspieler wie Lili Winderlich oder Jakob Pinter tragen mit ihrem Stimmen zur narrativen Fassung auf hohem Niveau bei.

Dennoch hält das Ensemble die notwendige Spannung auf der Bühne, weiß interpretatorisch zu überzeugen - nicht zuletzt in den Momenten, in denen ihm das Werkzeug der Stimme ob der Zuspielungen genommen ist. Allen voran weisen aber die russische-amerikanische Sopranistin Erika Baikoff als an Courtney Love gemahnende Ophelia und ihre Schweizer Kollegin Ana Maria Labin als Hamlet-Mutter Gertrude auch herausragende stimmliche Qualitäten auf. Baikoff überzeugt mit satter und doch beweglicher Grundierung, Labin mit ihren bewusst fragil gesetzten Koloraturen.

Ambivalenter Ambleto

Ambivalenter ist da Ambleto. Dem italienischen Counter Raffaele Pe kommt auch an diesem Abend der Verdienst zu, ein unbekanntes Barockwerk mit seinem Ensemble La Lira di Orfeo zu neuem Leben erweckt zu haben, auch wenn der musikalische Leiter selbstredend Konzertmeisterin Elisa Citterio die eigentliche Führung im Graben überließ. Als Titelfigur steht der 39-Jährige stimmlich jedoch hinter der Kollegenschaft zurück. Der Ambleto, von Gasparini einst dem Kastratenstar Nicolini auf den Leib geschrieben, ist eine technisch durchaus herausfordernde Figur, die Koloraturen mit Durchschlagskraft kombiniert, wobei es Pe vor allem an Letzterem mangelt.

Alles in allem trübt das den herausragenden Gesamteindruck des Abends jedoch nur bedingt. Dem Musiktheater an der Wien gelingt mit diesem Geniestreich, ein scheinbar fernes Stück Musikgeschichte ganz nah an das Publikum zu bringen. Hut (und im Werk oft genug Kopf) ab.

(Von Martin Fichter-Wöß/APA)

(S E R V I C E - "Ambleto" von Francesco Gasparini im Musiktheater an der Wien, Wien 6, Linke Wienzeile 6, Musikalische Leitung der Lira di Orfeo: Raffaele Pe, Regie: Ilaria Lanzino, Bühne: Martin Hickmann, Kostüm: Vanessa Rust, Licht: Anselm Fischer. Mit Hamlet - Raffaele Pe, Claudius - Miklós Sebestyén, Getrude - Ana Maria Labin, Ophelia - Erika Baikoff, Polonius - Nikolay Borchev, Laertes - Maayan Licht. Weitere Aufführungen am 8., 10., 12., 14. und 17. Mai. www.theater-wien.at/de/spielplan/saison2024-25/1319/Ambleto)

Zusammenfassung
  • Im Musiktheater an der Wien wird die Barockoper 'Ambleto' von Francesco Gasparini aufgeführt, die von Ilaria Lanzino zu einem modernen Familiendrama mit Netflix-Ästhetik umgestaltet wurde.
  • Erika Baikoff und Ana Maria Labin beeindrucken mit herausragenden stimmlichen Leistungen, während Raffaele Pe als Ambleto stimmlich hinter seinen Kollegen zurückbleibt.
  • Die Inszenierung nutzt Elektrosoundtrack und Sprechtexte, um eine filmische Atmosphäre zu schaffen, und wird an mehreren Terminen im Mai aufgeführt.