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"A Year without Summer": Shitstorm gegen die Unsterblichkeit

20. Juni 2025 · Lesedauer 5 min

Es ist wohl Florentina Holzingers bisher liebevollste Inszenierung - freilich auf ihre Art: In "A Year without Summer", im Mai an der Berliner Volksbühne uraufgeführt und nun zum Abschluss von Bettina Koglers Tanzquartier-Intendanz am Volkstheater zu sehen, steht nicht nur wie gewohnt der weibliche Körper, sondern der alternde weibliche Körper im Fokus. Die obligatorischen Triggerwarnungen - von Selbstverletzung bis Körperflüssigkeiten - sollte man trotzdem ernst nehmen.

Wie düster es im Jahr 1816 gewesen sein muss, als eine Aschewolke nach einem Vulkanausbruch in Indonesien weltweit zu einem "Jahr ohne Sommer" führte, macht Holzinger in der ersten halben Stunde des Abends deutlich: Zur geisterhaften Live-Musik tritt zunächst die "Frankenstein"-Autorin Mary Shelley aus dem Nebel, die ihr Werk in jenem Sommer verfasst hat. "Was, wenn dies ein Jahr ohne Sommer wäre?", fragt sie. Holzingers Antwort: Wir würden zusammenrücken, und zwar sehr nah. Rund 20 Performerinnen, davon die Hälfte in weit fortgeschrittenem Alter und extra für die Produktion gecastet, beginnen im Nebel zu tanzen, schmiegen sich aneinander, ziehen einander aus und verknäueln sich schlussendlich in einer mal mehr, mal weniger hitzigen Orgie.

Als es schließlich Licht wird, bläst sich eine überdimensionale Luftskulptur auf, die nicht von ungefähr Gustave Courbets berühmtem Gemälde "Der Ursprung der Welt" ähnelt und aus deren Vulva nach und nach die Darstellerinnen "geboren" werden. In über die nackten Körper geworfenen Arztkitteln gruppieren sie sich um Holzinger, um eine auf die beiden Leinwände am Bühnenrand übertragene Operation am schlampig zugenähten Oberschenkel durchzuführen. Zum Vorschein kommt ein Embryo, die Gruppe jubelt: "Es ist ein Musical!" Ob es sich dabei mehr um eine Geburt oder einen Abort handelt, bleibt dabei im Auge des Betrachters. Was folgt ist jedenfalls eine revueartige Suada über die patriarchal geprägte Humanmedizin, die in zahlreiche Songs verpackt wird.

Widerstand gegen die patriarchal geprägte Humanmedizin

Performerinnen berichten von übergriffigen und rassistischen Behandlungen, eine als Sigmund Freud verkleidete Darstellerin inspiziert mit einem Spekulum und einer Minikamera das Innere einer auf einem gynäkologischen Stuhl liegenden Kollegin und doziert über die "Vagina dentata", also die "bezahnte Vagina", und Kastrationsangst. Bei diesem einen Arztauftritt soll es aber nicht bleiben: Die für ihre Performance in Holzingers "Ophelia's Got Talent" mit einem Nestroy-Preis als beste Schauspielerin ausgezeichnete kleinwüchsige Schauspielerin Saioa Alvarez Ruiz erzählt von einem Rollenangebot für einen Film, in dem sie ein Opfer des Naziarztes Josef Mengele spielen sollte, aber ablehnte. "Wenn ich da schon mitspiele, will ich Mengele spielen", so Alvarez Ruiz, die sich in Folge mit dem französischen Anatomen Georges Cuvier ein Battle liefert.

Über allem steht die (medizinische) Suche nach ewiger Jugend, gar nach Unsterblichkeit. Da liegt das Facelifting nicht weit und was wäre ein Holzinger-Abend ohne von Haken durchbohrte Körperteile? Diesmal sind es Augenbrauen und Wangen, die live auf der Bühne durchstochen werden. Das anschließende Hinaufziehen in den Schnürboden findet allerdings hinter einem transparenten Vorhang statt, auf den das sich dieserart einem Lifting unterziehende Gesicht in (voraufgezeichneter) Nahaufnahme projiziert wird. Der so auf die Spitze getriebene Schönheitswahn wird hier eindringlich auf die Schaufel genommen.

"Shitstorm" im wahrsten Sinne des Wortes

Das letzte Viertel des zweistündigen Abends ist schließlich der Unaufhaltsamkeit des Alters gewidmet: Liebevoll werden die älteren Performerinnen von Krankenschwestern auf ihre Betten begleitet, gewickelt und zugedeckt. Hier wird wieder jene zärtliche Intimität spürbar, mit der dieser Abend begonnen hat. Welche Herausforderung die Pflege - sei es im privaten oder im institutionellen Bereich - sein kann, verdeutlicht Holzinger in jenem "Shitstorm", der den Höhepunkt des Abends einleitet.

Sind es zunächst noch häufig zu wechselnde Windeln, quillt die Scheiße im wahrsten Sinne des Wortes bald über. Da helfen auch nicht mehr die Roboterhunde, die zuvor ein eindrückliches Ballett hingelegt hatten und nun Feuchttücher verteilen. Bald sitzen auch die Pflegerinnen auf überquellenden und in alle Richtungen spritzenden Toiletten und entleeren parallel angesichts der Eskalation ihre Mägen, wobei Tanks und Schläuche mit den nachempfundenen Körperflüssigkeiten ausgiebig zum Einsatz kommen, während Frankensteins Monster das Geschehen beobachtet. "No End", heißt es zum Schluss und das Publikum entließ die Darstellerinnen unter lang anhaltendem Applaus in die wohlverdiente Dusche.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "A Year without Summer" von Florentina Holzinger, Performance von und mit Achan Malonda, Andrea Baker, Annina Machaz, Bärbel Warneke, Beatrice "Trixie" Cordua, Bláthin Eckhardt, Born in Flamez, Brigitte "Gitti" Ulm, Constanza Pérez de Lara Bonatti, Bear Boy, Fibi Eyewalker, Florentina Holzinger, Gibrana Cervantes, Liane Jil Apel, Luz de Luna Duran, MING, Netti Nüganen, otay:onii, Renée Copraij, Renée Eigendorff, Saioa Alvarez Ruiz, Sahel van K, Sofia Borges, Sophie Duncan, Sue Shay, Xana Novais. Musikalische Leitung: Born in Flamez, Stefan Schneider, Live-Musik: Sofia Borges, Born in Flamez, Gibrana Cervantes, Blathin Eckhardt, MING, otay:onii, Bühne: Nikola Knežević, Kostüm: Christiane Hilmer. Weitere Termine am 20. und 21. Juni. www.tqw.at)

Zusammenfassung
  • Florentina Holzingers Performance "A Year without Summer" wurde im Mai an der Berliner Volksbühne uraufgeführt und ist aktuell am Volkstheater Wien zu sehen.
  • Im Fokus stehen rund 20 Performerinnen, davon die Hälfte im fortgeschrittenen Alter, die Themen wie den alternden weiblichen Körper und patriarchale Humanmedizin aufgreifen.
  • Das Stück beginnt mit einer Anspielung auf das Jahr 1816 und Mary Shelley, gefolgt von einer Orgie und einer ironischen Musical-Szene über Schönheitswahn und Facelifting.
  • Eine provokante Szene zeigt das Live-Durchbohren von Augenbrauen und Wangen auf der Bühne, während das Thema ewige Jugend und Unsterblichkeit kritisch beleuchtet wird.
  • Im letzten Teil thematisiert die Inszenierung die Pflege im Alter und gipfelt in einer drastischen "Shitstorm"-Szene, bevor die Performance mit "No End" und langem Applaus endet.