Zeilinger: "Quantenphysik beschreibt nicht die Realität"
Frage: Wie geht es Ihnen mehr als zwei Jahre nach Zuerkennung des Nobelpreises? Hat sich das Interesse an Ihrer Person inzwischen beruhigt?
Zeilinger: Beruhigt hat sich gar nichts. Ich bekomme täglich etliche Einladungen jeglicher Art - von einer Schülerin, die um Hilfe bei einer Vorwissenschaftlichen Arbeit bittet, bis zu Top-Veranstaltungen in China oder den USA. Davon kann ich nur einen Bruchteil machen. Ich versuche, nicht mehr als eine Veranstaltung pro Woche zu besuchen, weil ich sonst nicht zu meiner eigenen Wissenschaft komme. Und weil mir der Jetlag immer mehr zu schaffen macht, versuche ich, Reisen über mehrere Zeitzonen zu vermeiden. Ich bin bald 80 und will meine Energie nicht frühzeitig verausgaben.
Frage: Sie sagten schon vor der Nobelpreis-Verleihung, sich künftig verstärkt der Frage widmen zu wollen, warum wir die Quantenphysik haben. Ich verstehe die Frage nicht. Was meinen Sie damit?
Zeilinger: Ich vergleiche das gerne mit den beiden Relativitätstheorien von Albert Einstein. Die sind auf Grundideen aufgebaut, die völlig einsichtig sind. So etwas gibt es in der Quantenphysik nicht. Aber ich bilde mir ein, so etwas gefunden zu haben, und muss nun die Leute davon überzeugen: Erstens beschreibt meiner Meinung nach die Quantenphysik nicht die Realität, sondern nur das Wissen über Ergebnisse von Beobachtungen. Und zweitens geht es um die Sprache, um dieses Wissen auszudrücken. Widerspruchsfreie Aussagen folgen dabei der Logik. Und Logik ist quantisiert. Ich kann nur einen richtigen physikalischen Satz haben, und dann einen zweiten, und so weiter. Aber ich kann nicht eineinhalb richtige physikalische Sätze haben. Aus dieser quantisierten Struktur der Sprache folgt meiner Meinung nach die quantisierte Struktur der Quantenphysik.
Frage: Ist das noch Physik oder schon Philosophie?
Zeilinger: Jede gute Physik kann Philosophie nicht vermeiden. Einstein hat mit 15 Jahren die "Kritik der reinen Vernunft" gelesen und Newton mehr Seiten mit philosophisch-theologischen Überlegungen geschrieben als mit physikalischen. Die Physik im 20. Jahrhundert hat da leider eine schlechte Entwicklung genommen. Es ist immer wichtiger geworden darauf hinzuarbeiten, dass etwas funktioniert, statt zu überlegen, was etwas bedeutet. Und das ist schade. Denn wirkliche Fortschritte in der Physik müssen mit einer klaren Analyse der Bedeutung von Konzepten verbunden sein.
Frage: Allerdings macht es das Wissenschaftssystem mit seinem Publikationswesen schwer, solchen Fragen nachzugehen.
Zeilinger: Das wurde zu einem Klotz. Gutachter haben viel zu viel Einfluss. Es gibt kaum mehr einen Herausgeber, der sagt, das publiziere ich trotz Nein des Gutachters, weil darüber in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollte. Dasselbe gilt für Forschungsanträge bis hinauf zu europäischen Programmen. Da müssen Komitees zustimmen und solche Gremien neigen nicht zu absoluten Top-Entscheidungen. Deshalb wird nicht wirklich nach Spannendem, Neuem gesucht und viel zu wenig die Spitze gefördert.
Frage: Diese Förderung der Spitze fordern Sie ja schon lange auch im Schulsystem ...
Zeilinger: Man müsste auf allen Schulstufen genauso viel für die Hochbegabten tun wie für jene, die besondere Förderung benötigen. Leider passiert da nichts. Das ist schade, so viel Geld kann das nicht kosten.
Physiker haben zu stark auf den Busch geklopft
Frage: Die Quantenphysik hat in den vergangenen 100 Jahren außerordentliche Erfolge gefeiert und enormen Einfluss auf die Technologie genommen. Trotzdem haftet ihr nach wie vor etwas Rätselhaftes an, und man versteht nicht wirklich, was da passiert. Was wird alles möglich sein, wenn man diese letzten Rätsel löst?
Zeilinger: Ein Teil dieser Rätsel, etwa Schrödingers Katze, die gleichzeitig tot und lebendig sei, ist nur eine falsche Sicht der Dinge. Da haben die Physiker ein bisschen zu stark auf den Busch geklopft. Wir wissen nicht, ob die Katze lebendig oder tot ist. Und deshalb müssen wir eine andere Mathematik anwenden. Aber die Katze ist nicht gleichzeitig tot und lebendig. Was passieren wird, wenn die letzten Rätsel der Quantenphysik gelöst sind, weiß ich nicht. Wie heißt es so schön: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.
Frage: Aber in welche Richtung geht es?
Wir haben aber hier im Haus eine spannende Entwicklung gestartet, indem wir Künstliche Intelligenz mit Quantenphysik verheiratet haben. Das wird uns helfen, Dinge zu finden, auf die wir nie gekommen wären, weil man so viel um die Ecke denken müsste. Eine andere Entwicklung ist die Frage, bis zu welcher Größe Objekte ihre Quantennatur offenbaren. Kann man einmal bei Viren oder Nanobakterien, also lebenden Systemen, so etwas zeigen? Das wird fürs Erste vielleicht noch nichts konzeptiv Neues bringen, aber es würde wohl die Denkansätze auch von Biologen ein bisschen verändern.
Lernen Sie Quantenphysik
Frage: Apropos Biologie: Weil die Quantenphysik so mysteriös wirkt, bedient sich ihrer die Esoterik mit allerlei Unfug. Wie begegnen Sie dem?
Zeilinger: An mich trägt man so etwas eher selten heran. Meine Standardantwort ist: Wenn Sie von Energieströmen und solchem Zeug reden, ist Ihr Bild schon viel zu klassisch und Sie haben noch nicht verstanden, was die Quantenphysik wirklich aussagt. Die ist noch viel verrückter als alles, was Sie mir erzählen. Das ist der falsche Dampfer - lernen Sie Quantenphysik und dann reden wir darüber. Aber es ist so wie bei der Homöopathie. Wenn jemand dadurch wirklich gesünder wird, meinetwegen soll er es werden. Aber mit Naturwissenschaft hat das nichts zu tun.
Frage: Zurück zur Naturwissenschaft: Weil man die Regeln der Quantenphysik nutzen kann, hört man nun oft von der zweiten Quantenrevolution. Sehen Sie das auch so?
Zeilinger: Die zweite Quantenrevolution ist ein Marketingtitel. Es sieht durchaus so aus, dass man mit Quantensensoren genauer messen kann, weil sie viel empfindlicher sind als klassische Systeme. Schwieriger wird es bei Quantenkommunikation und -kryptographie. Das funktioniert, nur sind die Datenraten so gering, dass es kommerziell nur bei hochsensiblen Daten sinnvoll ist. Und beim Quantencomputer bin ich nicht der Einzige, der die Gefahr sieht, dass es ständig heißt, das werden wir in 20 Jahren haben.
Frage: Also dass nach der Fusionskonstante die Quantencomputerkonstante kommt?
Zeilinger: Ich bin schon neugierig, was die Investoren in zehn Jahren sagen werden, die Millionen in solche Firmen gesteckt haben. Das ist wunderschöne Physik, aber da einen kommerziellen Return zu versprechen, dafür sehe ich keinen Grund.
Frage: Quantenkryptographie, Quantencomputer sind Beispiele für die führende Position, die sich Österreich in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Sehen Sie diese Position gut abgesichert?
Zeilinger: Unabdingbar ist, dass die neuen Generationen genauso clever sind wie die alten. Gott sei Dank haben wir einzelne Personen, die sehr, sehr gut sind. Das geht hoffentlich weiter.
Einzelpersonen machen den Unterschied
Frage: Der Leiter des von Ihnen mitgegründeten Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI), Markus Aspelmeyer, forderte zum 20-jährigen Bestehen des Instituts mehr Mut, um bestehende Freiräume mit unkonventionellen Ansätzen zu füllen. Hängt das an den Leuten, oder braucht es dafür auch entsprechende Strukturen?
Zeilinger: Es hängt erst einmal an den Leuten. Ich habe immer gemacht, was ich für richtig gehalten habe, und war auch imstande, die Gelder dafür aufzutreiben. Es braucht Leute, die bereit sind, solche Spinnereien zu machen. Und dann brauche ich nicht zehn Gutachter, sondern Entscheidungsträger, die jemandem das zutrauen. Es sind immer wieder Einzelpersonen, die den großen Unterschied ausmachen.
Frage: Dennoch muss man Geld für ein Projekt aufstellen und das ist zunehmend mit der Frage nach der Anwendbarkeit verbunden.
Zeilinger: Das ist der falsche Ansatz. Wenn man nach Anwendbarkeit fragt, dann bekommt man nicht die Querdenker, die Ungewöhnliches machen. Wenn jemand für ein Projekt Fördergeld bekommt und nach vier Jahren kommt das heraus, was schon im Antrag gestanden ist, dann war das hinausgeschmissenes Geld. Aber es muss natürlich auch Mittel für anwendungsorientierte Forschung geben.
Wie Wettrennen um die Teleportation gewonnen wurde
Frage: Wie war das mit Ihren Abschlussberichten?
Zeilinger: Ich habe nie erlebt, dass jemand den Abschlussbericht mit dem Antrag verglichen und geschaut hat, ob alles gemacht wurde. Ich glaube eher, dass sich viele Wissenschafter da einschränken lassen. Deswegen habe ich auch das Wettrennen mit der Teleportation gewonnen. Ich habe damals immer Gelder von früheren Anträgen auf der Seite gehabt, und wir konnten so die Idee der Teleportation umsetzen. Kollegen aus den USA sagten mir später, sie hatten auch diese Idee, mussten dafür aber erst Gelder beantragen. Und währenddessen haben wir das Experiment gemacht.
Frage: Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in den USA, wo Wissenschaft und Universitäten zunehmend unter Druck geraten?
Zeilinger: Das ist eine schlichte Katastrophe. Allerdings haben Universitäten wie Harvard, Princeton oder Stanford dermaßen viel Stiftungskapital, dass sie diese Phase mit eigenem Geld leicht durchtauchen könnten und ihren unabhängigen Kurs fahren sollten. Für die kleineren Unis ist die Entwicklung allerdings schon ein Problem.
Europa sollte die besten Leute anheuern
Frage: Sollte Europa da mit einer Joboffensive opportunistisch sein?
Zeilinger: Europa sollte immer die besten Leute anheuern, die es bekommen kann. Das hat mit Opportunismus nichts zu tun, sondern da geht es um gute Berufungspolitik. Wenn man die Mittel und Möglichkeiten, jemanden zu holen, dann sollte man so einen Wettbewerbsvorteil ausspielen.
Frage: Ist die große Wissenschaftskepsis in Österreich ein Wettbewerbsnachteil?
Zeilinger: Wenn ich meine Vorträge halte, merke ich nichts von Wissenschaftsskepsis. Die Leute sind begeistert. Ich weiß nicht, wie solche Umfragen zustande kommen.
(Das Gespräch führte Christian Müller/APA)
Zusammenfassung
- Anton Zeilinger, der 2022 den Physik-Nobelpreis erhielt, betont, dass die Quantenphysik nicht die Realität, sondern nur das Wissen über Beobachtungen beschreibt.
- Zeilinger kritisiert das Wissenschaftssystem, das innovative Ideen hemmt, und fordert mehr Förderung für Hochbegabte in Schulen und Forschung.
- Er sieht die 'zweite Quantenrevolution' als Marketingbegriff und äußert Skepsis gegenüber kommerziellen Anwendungen von Quantencomputern.
- Zeilinger hebt die Bedeutung individueller Forscher hervor, die bereit sind, unkonventionelle Ansätze zu verfolgen, und warnt vor Wissenschaftsskepsis in Österreich.
- Er spricht über die Integration von Künstlicher Intelligenz in die Quantenphysik als zukünftige Entwicklung und äußert sich besorgt über den Druck auf Wissenschaft und Universitäten in den USA.