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Physiotherapeuten fordern Mitsprache bei ME/CFS-Konsenssuche

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Der Verband der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten fordert die Einbindung bei der sogenannten "Konsensuskonferenz" zum Thema ME/CFS, die die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) für Mitte April angekündigt hat. Man sehe oft unsachgemäße Behandlungen, die eine starke Zustandsverschlechterung (sog. "Crash") zur Folge hätten, sagte die Wiener Landesverbandsvorsitzende Sabine Schimscha zur APA. Hier brauche es Aus- und Fortbildung in allen Berufsgruppen.

Die ÖGN hatte vergangene Woche gegenüber der APA angekündigt, zum Thema der Multisystemerkrankung ME/CFS für 19. April eine interdisziplinäre "Konsensuskonferenz" abzuhalten. Ziel sei die Erstellung einer "Konsensus-Stellungnahme", die "wissenschaftlich fundierte Handlungsempfehlungen" für Betroffene, Ärzte und Ärztinnen, Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit bieten soll. Konkrete Teilnehmer waren vorerst nicht bekannt - allerdings erhielt mittlerweile am Freitag die Patientenorganisation ÖG ME/CFS, die zuvor beklagt hatte, nicht eingeladen worden zu sein, eine Einladung zu dem Treffen, wie die APA erfuhr.

Seitens des Bundesverbandes Physio Austria verwies man nun gegenüber der APA darauf, dass der Verband die drittgrößte Gruppe an Gesundheitsdienstleistern vertritt. Als Interessensvertretung der Österreichischen Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen sehe man die aktuelle Situation der Versorgung der von ME/CFS bzw. Long Covid betroffenen Patientinnen und Patienten kritisch. "Als Physio Austria unterstützen wir mit unserer Expertise alle Bestrebungen, diese Situation zu verbessern und würden begrüßen, bei der geplanten Stakeholder-Konferenz entsprechend unserem Stellenwert eingebunden zu werden", so Schimscha.

Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten seien oft mit von postinfektiösen Syndromen (PAIS) betroffenen Patienten konfrontiert, so der Berufsverband. Insbesondere seit der Corona-Pandemie hätten sich die Fälle weiter gehäuft. Der Wiener Landesverband richtete vor zwei Jahren eine Fachgruppe "Long Covid" ein; im Sommer 2023 wurde diese in "Fachgruppe komplexe Multisystemerkrankungen" umbenannt.

Wichtig sei es, auf weitgehend unbekannte Symptome postviraler Erkrankungen aufmerksam zu machen, betonte Schimscha. Die Landesvorsitzende nannte etwa das Posturale Tachykardiesyndrom (POTS), bei dem es zu einem starken Pulsanstieg in aufrechter Position kommt sowie zu zahlreichen kreislaufbedingten Problemen. Ebenso wies sie auf die Post Exertional Malaise (PEM) als oftmals verkanntes Symptom hin. Laut Experten wie Kathryn Hoffmann von der MedUni Wien gilt die schwere körperliche Belastungs-Erholungsstörung PEM als Kardinalsyndrom von ME/CFS - und wird oftmals mit anderen Erkrankungen v.a. aus dem psychischen Formenkreis (etwa Depressionen) verwechselt. Körperliche und kognitive schrittweise Aktivierung wirkt hier - anders als bei vielen anderen Erkrankungen - nicht unterstützend, sondern hat einen negativen Effekt.

Auch Schimscha wies darauf hin, dass man PEM nicht "wegtrainieren" könne. Durch unsachgemäße Behandlungen würden oft Verschlechterungen bei den Patienten (sogenanntes "Crashen") ausgelöst. Der mit mühsam aufgebautem Pacing (Einhaltung der individuellen Belastungsgrenzen, Anm.) langsame erzielte Therapieerfolg werde damit leider nicht nur zunichte gemacht. "Es findet eine regelrechte Re-Traumatisierung statt, der Chronifizierung wird Vorschub geleistet."

Die Fachgruppe "Komplexe Multisystemerkrankungen" bei Physio Austria besteht derzeit aus 15 Physiotherapeutinnen und -therapeuten, die sowohl in der Praxis mit Betroffenen arbeiten als auch in der Lehre und Forschung tätig sind, so Schimscha. "Wir haben in den letzten zwei Jahren die Wahrnehmung unserer Berufsgruppe auf die genannten Erkrankungsformen gelenkt, Fachartikel publiziert, uns in der Forschung eingebracht und möglichst viele Kolleginnen und Kollegen und unsere Studentinnen und Studenten der Fachhochschulen aus- und fortgebildet." Auch supervidiere man über den Berufsverband Kolleginnen und Kollegen, wenn sie fachliche Hilfe brauchen.

Erfreulich sei, "dass die Diagnosetools zum eindeutigen Nachweis dieser Erkrankungen zunehmend besser werden", so die Verbandsvorsitzende. "Das sollte auch den ärztlichen Gutachtern helfen", sagte sie. Man werde künftig auch die eigenen physiotherapeutischen Sachverständigen in die Arbeit der Fachgruppe aktiv einbeziehen und zur nötigen Fortbildung animieren.

Schimscha wies aber nicht nur auf die Gefahr von unsachgemäßen Behandlungen und deren Folgen hin, sondern auch auf die Gefahr von unseriösen Heilversprechen: "Eine große Gefahr nehmen wir wahr, die von unlauteren Geschäftspraktiken ausgeht." Nichtmedizinische Berufe würden um teures Geld "Wundermittel" wie z.B. Vitamininfusionen anbieten. Die Nachbehandlung dieser schwer erkrankten Patientengruppe gehöre "ausschließlich in die Hände von anerkannten medizinischen Gesundheitsberufen" wie Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie der Ärzteschaft.

Kritik übte sie an der Schließung von Anlaufstellen wie Long Covid Ambulanzen. Es brauche vielmehr "die flächendeckende Einrichtung" von Spezialambulanzen und Fachpraxen. Dies sei "die einzige logische Konsequenz, um den oft sehr verzweifelten Patientinnen und Patienten schnell qualitative medizinisch notwendige Versorgung zu ermöglichen".

ribbon Zusammenfassung
  • Physiotherapeutenverband fordert Mitsprache bei der für den 19. April geplanten Konsensuskonferenz zu ME/CFS, um die Behandlung und Versorgung Betroffener zu verbessern.
  • Die Fachgruppe 'Komplexe Multisystemerkrankungen' setzt sich aus 15 Experten zusammen, die in Praxis und Forschung tätig sind und Fortbildungen für Fachkollegen anbieten.
  • Unkorrekte Behandlungsmethoden können bei ME/CFS-Patienten zu Verschlechterungen führen, was die Notwendigkeit einer qualifizierten medizinischen Versorgung unterstreicht.