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Gebäude in Südosttürkei stürzte einen Monat nach Beben ein

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Einen Monat nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei und in Syrien ist ein schwer beschädigtes Gebäude im südosttürkischen Sanliurfa eingestürzt. Rettungskräfte haben am Sonntag mehrere Verletzte aus den Trümmern des sechsstöckigen Hauses geborgen und suchten weiter nach Verschütteten, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Die Retter riefen immer wieder zur Stille auf, um mögliche Stimmen unter den Trümmern zu hören.

Auf Bildern einer Überwachungskamera war zu sehen, wie das Gebäude neben einer viel befahrenen Straße plötzlich in sich zusammenfiel. Am 6. Februar hatten Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Norden Syriens erschüttert, gefolgt von etlichen Nachbeben. Mehr als 50.000 Menschen wurden bisher als tot gemeldet. Fast zwei Millionen Menschen sind in der Türkei obdachlos. Viele bleiben in Zeltstädten, immer wieder kehren Menschen aber auch in ihre beschädigten Häuser zurück.

"Jahrhundertkatastrophe" nennt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Erdbeben - sie werden die Türkei noch für Monate, wenn nicht sogar Jahre beschäftigen. Mit dem Nordwesten Syriens haben sie zugleich eine Region getroffen, die schon vorher unter einer humanitären Krise von gewaltigem Ausmaß ächzte.

Das Ausmaß der Beben ist auch einen Monat danach kaum zu fassen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind rund 29 Millionen Menschen in beiden Ländern betroffen. Das besonders schwer getroffene Antakya gleicht einer Geisterstadt. Bagger räumen Schutt zusammen. Ganze Stadtviertel in der Region sind bereit zum Abriss. Einige Menschen wagen sich zurück in einsturzgefährdete Gebäude, um ein paar Möbel oder anderen Besitz zu retten.

Fast zwei Millionen Menschen haben die in der Türkei betroffene Region inzwischen verlassen. Zurückgeblieben sind die, die nicht gehen können oder wollen. Sie leben unter widrigen Bedingungen vor allem in Zelten. Bewohnern im Bezirk Samandag zufolge fällt der Strom oft aus und die Menschen haben keine Möglichkeit, ihre Wäsche zu reinigen. Es fehle an Trinkwasser und Toiletten, es mangele an Hygiene. Per Durchsage werde davor gewarnt, das Leitungswasser zu trinken. Krätze und Verlausung nehmen zu, wie Adanas Ärztekammer-Chef Selahattin Mentes sagte.

In Nordwestsyrien lebten schon vor den Beben etwa 1,8 Millionen Vertriebene in Zelten, Schutzbauten und einfachen Häusern - 1.400 offizielle und inoffizielle Camps sind es inzwischen. Plätze sind dort nicht leicht zu bekommen. Und so suchen seit den Beben Tausende weitere Familien auch anderswo Unterschlupf, einige in zerstörten Häusern, andere übernachten bei eisigen Temperaturen im Freien.

Auf türkischer Seite entdeckt man überall blaue und weiße Zelte in der Grenzregion. Sie stehen in Parks und Vorgärten, auf Höfen und Spielplätzen, am Straßenrand, selbst in ländlichen Gegenden zwischen Olivenbaumplantagen. Ein Mann, der mit seiner Frau und sechs Kindern in einem Zelt der Katastrophenschutzbehörde AFAD untergekommen ist, kann kaum beschreiben, wie die nächsten Wochen und Monate werden sollen. "Die Zukunft", sagt er, "ist vorbei."

Hinzu kommt die Sorge um vermisste Angehörige. Viele suchen mit Anzeigen an Häuserwänden oder Bildern in Whatsapp-Gruppen bis heute nach ihren Liebsten. Auch auf Twitter teilen Nutzer Fotos und letzte Standortangaben. Mehr als 46.000 Menschen wurden alleine in der Türkei durch das Beben getötet, über die Zahl Vermissten macht die Regierung aber bisher keine Angaben. In Syrien sorgen sich Helfer auch um unbegleitete Kinder. Viele von ihnen sind Vertriebene, die ohnehin nur schwache soziale Bindung haben.

"Unser Leben ist wie ein Film geworden. Wie ein Film, bei dem man das Ende nicht kennt", berichtet ein syrischer Bub, vielleicht zwölf Jahre alt, der versucht, über Bab al-Hawa zurück nach Syrien zu kommen. Ghaith, ein anderer, sitzt vor einem Häuschen zur Sicherheitskontrolle. Seine aus dem Ort Salkin stammende Familie, die nun auch in Zelten lebt, muss ihn hier abholen, allein über die Grenze darf er nicht. Ghaith wischt sich Tränen aus den Augen.

In Syrien ringen Ärzte weiter um das Leben von Verletzten. "Die medizinische Lage ist nicht zu beschreiben", sagt Arzt Ammar Zakaria von der Organisation SAMS. Niemand traue sich, die Toten-Dunkelziffer im Nordwesten Syriens - bestätigt sind rund 5.900 - zu schätzen. Viele Trümmer seien mangels schwerer Geräte seit den Beben gar nicht bewegt worden. "Es sind sehr, sehr, sehr viele Opfer", sagt Zakaria. Der Einsatzleiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), Jassir Kamalidin, beschreibt die Lage als "immer noch chaotisch". Die Hilfe sei "komplett unverhältnismäßig zu den Erfordernissen vor Ort".

Neben menschlichem Leid haben die Beben auch viel wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Schaden angerichtet. Mehr als 200.000 Häuser wurden nach Regierungsangaben allein in der Türkei zerstört - gewaltige Schuttberge, die entsorgt werden müssen. Greenpeace in der Türkei warnt vor Verseuchung mit Asbest oder anderen Chemikalien. Verlässliche Daten liegen dazu nicht vor. Aber dort, wo die schweren Maschinen in der Türkei nun die Gebäude abtragen, hängt ein weißer, beißender Dunst in der Luft.

Auch Kulturgüter haben schwere Schäden genommen oder sind zerstört, vor allem in der Stadt Antakya, dem antiken Antiochien: Nach einem ersten Bericht der Ingenieurs- und Architektenkammer gehören dazu die orthodoxe Sankt Paulus Kirche und die Habib-i Neccar Moschee - einer der ältesten Moscheen in den heutigen Grenzen der Türkei. Auch die Gemäuer einer historischen Burg in Gaziantep, gebaut von den Römern im 2. Jahrhundert nach Christus, sind eingestürzt.

Der Sachschaden den das Erdbeben verursacht hat, liegt nach einer Schätzung der Weltbank allein in der Türkei bei mindestens 34,2 Milliarden US-Dollar (rund 32,4 Milliarden Euro). Der türkische Unternehmens- und Geschäftsverbands Türkonfed schätzte den finanziellen Schaden in einem Bericht kurz nach dem Beben auf 84,1 Milliarden Dollar (rund 79 Milliarden Euro).

Nach dem Schock wird in der Türkei nun immer deutlicher Kritik an der Regierung laut, auch mit Rücktrittsforderungen. Viele kritisieren an Erdogans Krisenmanagement, dass zu wenige Rettungsteams zu spät vor Ort waren etwa oder Versorgung zu spät angekommen sei. Hinzu kommt der Vorwurf, dass die Regierung Pfusch am Bau nicht geahndet habe. Erdogan räumte Verzögerungen ein, rechtfertigte diese aber mit der Größe der Katastrophenregion und der Schwere der Beben.

Nach Nordwestsyrien rollten inzwischen zwar etwa 500 Lastwagen mit Hilfsgütern, aber auch hier gestand UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths ein, dass die Vereinten Nationen mit Hilfe zu spät zur Stelle waren. Hilfen für Syrien seien schon vor den Beben dramatisch unterfinanziert, sagt Clynton Beukes von der Organisation World Vision. "Als das Beben uns traf, hatten wir nichts", sagt er. Helfer standen vor der Frage, ob sie das Gehalt eines Arztes im Krankenhaus bezahlen oder Hilfsgüter an der Grenze für Syrien stationieren wollten - beides zusammen ging nicht.

ribbon Zusammenfassung
  • Einen Monat nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei und in Syrien ist ein schwer beschädigtes Gebäude im südosttürkischen Sanliurfa eingestürzt.
  • In Nordwestsyrien lebten schon vor den Beben etwa 1,8 Millionen Vertriebene in Zelten, Schutzbauten und einfachen Häusern - 1.400 offizielle und inoffizielle Camps sind es inzwischen.
  • Plätze sind dort nicht leicht zu bekommen.
  • In Syrien ringen Ärzte weiter um das Leben von Verletzten.

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