Bei Handysucht wichtig Jugendlichen mehr zuzuhören
Jovicic forscht in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt mit ethnografischen und partizipativen Methoden. "Das heißt, dass wir Menschen nicht unbedingt in ein Labor oder Büro einladen, sondern versuchen, sie in ihren unterschiedlichen Kontexten zu verstehen", sagte die Anthropologin im APA-Gespräch.
Zu diesem Zweck verbrachte Jovicic vier Monate in einer österreichischen Klinik, die unter anderem auf Internetsucht spezialisiert ist. Dort nahm sie an Gruppentherapien teil und führte Interviews mit den Patientinnen und Patienten - überwiegend Männer in ihren Zwanzigern oder Dreißigern - sowie dem Klinikpersonal durch. Das dreijährige Forschungsprojekt dauert noch bis Mai 2026 an, erste Aussagen zu den Ergebnissen lassen sich jetzt schon treffen.
Betroffene, aber auch Therapeutinnen und Therapeuten würden erzählen, dass es sich bei Suchtmitteln wie dem Smartphone nicht um das Problem per se, sondern um eine Problemlösung handeln würde. "Diese Strategie entwickelt sich oft nach und nach, etwa aus Gründen des Eskapismus oder dem Bedürfnis nach Erfolgserlebnissen. Aus diesem Blickwinkel gehen Menschen mit Problemen in ihrem Leben sehr kreativ um - auch wenn sie langfristig natürlich nicht gelöst werden", erklärte Jovicic.
So sei in den Gesprächen die Rede von familiären Schwierigkeiten, Mobbing, Einsamkeit, chronischen Erkrankungen sowie Zustandsbildern wie Autismus oder ADHS als Anlass für den hohen Medienkonsum gewesen. "Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist Sucht auch ein Symptom von gesellschaftlichen Problematiken und nicht nur individuell", so Jovicic. Viele Betroffene berichteten dementsprechend von beruflicher Orientierungslosigkeit und Frustration.
Jovicic führt in diesem Zusammenhang das Konzept des "grausamen Optimismus" an: Dabei handle es sich um den Widerspruch, dass Jugendlichen sehr früh vermittelt wird, sie müssten ihre innere Berufung finden und könnten dann alles erreichen, während gleichzeitig ein sehr geringes Level an sozialer Mobilität besteht. "Was Jugendliche hierzulande tatsächlich erreichen können, entscheidet sich oft schon ganz früh mit der Wahl der Schulform oder dadurch, in welcher Region oder in welchem Stadtteil jemand aufgewachsen ist", erklärte sie.
Moralisierende Diskussion über Jugendliche - nicht mit ihnen
"Gleichzeitig wird über die Handynutzung von Jugendlichen sehr moralisierend und einseitig berichtet - mit sehr vielen Annahmen darüber, was gut oder schlecht ist", so Jovicic. Die Ansicht, dass hohe Bildschirmzeit immer schlecht ist, sei beispielsweise problematisch, weil dabei die diversen Gründe, warum jemand viel online ist, nicht berücksichtigt werden. Betroffene kommen unterdessen kaum zu Wort.
So komme es etwa vor, dass Jugendliche nach einer Arbeit oder Lehre suchen und viel Zeit am Bildschirm verbringen, weil sie schlicht nichts anderes zu tun haben, erklärte Jovicic. Zudem können soziale Ungleichheiten eine Rolle spielen, etwa wenn keine finanziellen Mittel vorhanden sind, die Freizeit anders zu gestalten. Auch Ablenkung vom Leistungsdruck in der Schule sei ein Motiv.
"Besorgten Eltern würde ich in diesem Zusammenhang raten, wertfrei und ohne Vorannahmen mit Kindern und Jugendlichen über diese Themen zu reden, Vertrauen aufzubauen und, wenn so ein Suchtverhalten vorliegt, zusammen Lösungen zu suchen", so Jovicic.
Mit dem Handyverbot macht man es sich "ein bisschen zu leicht"
Verbote würden sich kurzfristig einfach durchsetzen lassen, und das Handyverbot in der Schule könne durchaus sinnvoll sein. "Man macht es sich aber ein bisschen leicht, indem man sagt - es sind nur die sozialen Medien schuld. Das heißt natürlich nicht, dass die sozialen Medien unproblematisch sind bzw. keine kommerziellen Agenden haben", stellte Jovicic klar.
Außerdem sei erstaunlich, wie viel hierzulande über Handy- und Onlinesucht diskutiert werde, während etwa Alkoholabhängigkeit relativ wenig Beachtung findet, obwohl in Kliniken rund 70 Prozent der Betroffenen alkoholsüchtig sind, sagte die Forscherin. Sie forderte daher mehr Aufmerksamkeit für das Thema Sucht im Allgemeinen - ein Feld, "das chronisch unterfinanziert ist und zunehmend privatisiert wird, wie viele Teile des Gesundheitssystems". Ebenso plädierte sie für Investitionen in niederschwellige Angebote außerhalb des klinischen Settings.
(S E R V I C E - Projektwebsite: https://suzanajovicic.com/smartphone-sucht)
Zusammenfassung
- Die Anthropologin Suzana Jovicic kritisiert, dass die Diskussion um Handysucht bei Jugendlichen oft moralisierend geführt wird und die Perspektiven der Betroffenen zu wenig berücksichtigt werden.
- Maßnahmen wie das Handyverbot bis zur achten Schulstufe können kurzfristig sinnvoll sein, lösen laut Jovicic aber nicht die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ursachen für Suchtverhalten.
- Rund 70 Prozent der Suchtpatienten in Kliniken sind alkoholsüchtig, doch diesem Thema wird im Vergleich zur Smartphone-Sucht in der öffentlichen Debatte wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
- Jovicic empfiehlt Eltern, offen und vorurteilsfrei mit Jugendlichen über deren Mediennutzung zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.