Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: (Un)realistische Hoffnungen beim NATO-Gipfel

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Sogenannte Gipfeltreffen sind immer von Erwartungshaltungen begleitet, manchmal - und das traf in besonderem Maße für den jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius zu - auch von aus Expertensicht unrealistischen Hoffnungen. Nicht selten entstehen diese aus den Wünschen politischer Akteure und Interessensgruppen und werden durch öffentliche Diskussionen und deren Resonanz in den Medien verstärkt.

Nun ist völlig klar, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine im Militärbündnis der NATO die Sicherheit des Landes erheblich gestärkt und einen Schutz auch gegen russische Angriffe geboten hätte - Russland hat es noch nie gewagt, ein NATO-Mitglied anzugreifen und versucht daher wütend zu verhindern, dass Staaten dem Bündnis beitreten, die es als seinem Einflussbereich zugehörig betrachtet und in dem es gegebenenfalls auch militärisch ungehindert intervenieren will.

Doch diese Chance wurde zwischen dem NATO-Gipfel von Bukarest 2008, bei dem der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, und 2014 mit der russischen Invasion im Donbass durch mangelhafte Strategien des Westens und törichte Hoffnungen, ein Russland unter Wladimir Putin würde sich an Regeln und Vereinbarungen halten, verspielt. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022, wodurch letztere sich nunmehr  in einem vollmaßstäblichen Verteidigungskrieg sieht, wäre ein kurzfristiger Beitritt zur NATO undenkbar, weil auch ein Verstoß gegen die bisherigen eigenen Regeln des Bündnisses, nach denen der Beitritt eines Landes nur dann möglich ist, wenn dieses nicht in einen offenen Konflikt mit einem anderen verwickelt ist.

Da seriöse Prognosen über den Ausgang und die Dauer des aktuellen Krieges nicht möglich sind, wäre es ebenso wenig seriös, ein konkretes Beitrittsdatum in Aussicht zu stellen. Es ist so einfach, wie es traurig für die vom Krieg geschundene Ukraine ist.

Realistischer Selenskyj

Dies wusste auch Präsident Selenski, bevor er seine Reise nach Vilnius antrat, wie es aus ukrainischem Interesse legitim und verständlich war, dass er in teilweise drastischen Worten möglichst konkrete Zusagen für einen Beitritt seines Landes einforderte. Diese blieben zwar in der von ihm geforderten Weise aus, man kann aber davon ausgehen, dass er mit der gebotenen Kompensation zufrieden ist, besonders im Licht der Tatsache, dass er eben wesentlich realistischere Erwartungshaltungen gehegt haben dürfte als manche Beobachter.

Zum Einen kann davon ausgegangen werden, dass spätestens nach dem Überfall Russlands auf seinen Nachbarn der Westen sich keinen Illusionen über den Charakter des Putin-Regimes und seine Absichten mehr hingeben wird. Ein Ende des Krieges sollte demnach sehr rasch einen Beitritt der Ukraine (und möglicher Weise auch anderer Interessenten im Raum, wie etwa auch Georgien) im Rahmen eines verkürzten Beitrittsverfahrens nach sich ziehen.

Zum Anderen gab es neben der Zusage weiterer umfangreicher Militärhilfe auch eine zwar vorerst nach außen noch etwas vage gehaltene, nichtsdestoweniger aber offenbar potenziell bedeutsame Absichtserklärung der G-7-Staaten zu "spezifischen, bilateralen und langfristigen Sicherheitszusagen und -regelungen" für die Ukraine. Es könnte sich dabei um nichts weniger handeln als um bilaterale Abkommen der betreffenden Länder, die Ukraine so lange zu unterstützen, bis ein Friedensabkommen erreicht worden ist, das von der Ukraine akzeptiert werden kann, wonach eben der Weg für einen Beitritt der Ukraine zur NATO geebnet wäre.

Wütende Reaktion aus Moskau

Dass diese Zusagen auch von Russland sehr ernst genommen werden, zeigt die wütende Reaktion des Kreml-Sprechers Dimitri Peskow, der meinte, damit würde "Europa für viele, viele Jahre noch viel gefährlicher" gemacht. Nun, mittlerweile macht die Inflation derartiger versteckter oder offener Drohungen diese offenbar für die westlichen Akteure, möglicher Weise auch für die Öffentlichkeiten nicht mehr wirklich glaubwürdig. In diesem Sinn kann die Ukraine mit den Ergebnissen des Gipfels in Vilnius durchaus zufrieden sein, wie es letztlich dann auch Präsident Selenski zum Ausdruck brachte.

Dennoch gabs ein neues NATO-Mitglied

Eine neue Vollmitgliedschaft  bei der NATO wurde dann doch auch in Vilnius beschlossen, bekanntlich jene des Königreichs Schweden. Nachdem man sich seitens der USA und ihrer Verbündeten offenbar entschlossen hatte, dem türkischen Präsidenten Erdogan Unterstützung bei der Sanierung der schwächelnden türkischen Wirtschaft und in Form der Lieferung von Kampfflugzeugen zu gewähren, gab dieser seinen Widerstand gegen den Beitritt Schwedens auf.

Koranverbrennungen und eine mangelnde Kooperation Schwedens bei einer Unterbindung von Aktivitäten der seitens der Türkei als "terroristische Gruppierung" eingestuften kurdischen PKK bildeten in der Vergangenheit eher einen Vorwand für die Verweigerung einer türkischen Zustimmung, gerichtet an die Adresse der innertürkischen Opposition. Zu Beginn seiner neuen Amtszeit kann sich Erdogan wieder einen realistischeren politischen Kurs leisten, der nicht zuletzt im Interesse des eigenen Landes gelegen ist.

Nach der mit Moskau offenbar nicht abgesprochenen Rückführung der kriegsgefangenen Kommandeure des Asow-Regiments in die Ukraine und der Zusage, dass die Türkei weiterhin die Ausfuhr und den Transport von ukrainischem Getreide im Schwarzen Meer sicherstellen wird, ist dies nunmehr ein wesentlich schwererer Schlag der Türkei gegen die Interessen Russlands und ein weiterer Beweis für dessen Isolation. Einen Machtgewinn Moskaus im Schwarzmeerraum will die Türkei offenbar nicht hinnehmen. Damit wird einerseits dort, an seiner Südflanke, die russische Einflussmöglichkeit geschwächt, der Haupteffekt tritt aber an seiner Nordflanke ein: Mit einem Beitritt Schwedens zur NATO ist ganz Skandinavien lückenlos Bündnisgebiet.

Die Halbinsel Kola, Hauptstützpunkt und Ausfallstor der russischen strategischen nuklearen Angriffs-U-Boote, wird damit noch stärker isoliert als in der Vergangenheit. Die Ostsee wird so de facto zu einem NATO-Binnengewässer, Schweden mit seinen verhältnismäßig starken und hoch modernen Über- und Unterwasserkräften kann dort erheblich zu einer Verteidigung der Seeräume beitragen. Angesichts dieser Entwicklungen kann man es gar nicht oft genug sagen: Das absehbare strategische Ergebnis des Überfalls Russlands auf die Ukraine ist eine nachhaltige politische Isolation und eine ebensolche militärische Eindämmung Moskaus.

"Kreml-Astrologie"

Dortselbst scheint etwas begonnen zu haben, was man in Sowjetzeiten "Kreml-Astrologie" nannte. Damals bestand diese hauptsächlich aus Spekulationen, wer im notorisch gerontokratischen System dem jeweils aktuellen Generalsekretär der KPdSU nachfolgen würde, zum Höhepunkt geführt durch eine Analyse der Träger seines Sarges beim Begräbnis an der Kremlmauer.

Heute kann dieses Phänomen auf die Frage, wer in Russland welchen Anteil an Macht (noch) in Händen hält, angewendet werden (und diese hat im Sinne einer Infragestellung einer systematischen Ausübung von Regierungs- und Verwaltungsmacht in einem Nuklearwaffen besitzenden Staat eine sehr hohe und reale Bedeutung). Auch wenn sich Experten:innen teilweise erbittert über Ursachen, Hintergründe und Bedeutung der Insubordination der "Gruppe Wagner" und ihres Chefs Jewgeni Prigoschin streiten, in einem sind sich praktisch alle einig: Wladimir Putin ist in seiner Macht geschwächt.

Und es verdichten sich die Anzeichen, dass diese Schwächung eine wesentlich stärkere ist, als zunächst viele angenommen haben. So musste (oder wollte) der Kreml ein persönliches Treffen zwischen Putin und der Wagner-Führung (inklusive Prigoschin, der eben noch als Verräter gebrandmarkt worden war) zugeben. Dies gibt (auch innerrussisch) zu massiven Spekulationen Anlass, warum sich Putin gegen Prigoschin nicht durchsetzen kann oder will.

Machtkampf in Moskau

Kein gutes Zeichen in einem System, das auf der Stärke eines Führers beruht. Aber auch von der Führung des Verteidigungsministeriums, von Prigoschin als unfähige und korrupte Lügner gescholten, kann oder will Putin sich nicht trennen. Und darunter scheint es jetzt erheblich zu gären: Dass ein Machtkampf in der obersten und oberen Führung des Staates und der Streitkräfte die mittleren Führungsebenen verunsichert und potenziell demotiviert, liegt auf der Hand.

Nunmehr verdichten sich allerdings Hinweise auch auf Konflikte zwischen der oberen und der mittleren Streitkräfteführung: Nach seiner Ablösung durch Generalstabschef Waleri Gerassimow wurde eine Audioaufzeichnung von Generalmajor Iwan Popow, bis dahin Kommandeur der 58. Armee an der russischen Südfront, bekannt, in der dieser scharfe Kritik an Gerassimow übte und diesen beschuldigte, den russischen Truppen in den Rücken zu fallen. Vor kurzem war das Hauptquartier von Popow bei einem ukrainischen Angriff mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow zerstört worden. Dem Angriff fiel Generalleutnant Oleg Zokow zum Opfer, der Stellvertretende Kommandeur des Wehrkreises Süd. Popow befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) in seinem Hauptquartier. Über die Frage, wer die Zielkoordinaten an die ukrainischen Streitkräfte weitergegeben hat, wird seither heftig spekuliert.

Diese Ereignisse zeigen jedenfalls, dass sich die Risse in der russischen Führung weiter in die Tiefe der Hierarchie verzweigen. Um eine Metapher aus einem früheren "Weltblick" fortzuschreiben: Putin, dem Jongleur der Macht, scheinen jetzt nach der ersten auch noch andere Kugeln zu entgleiten. Am Ende könnte er mit leeren Händen dastehen."

ribbon Zusammenfassung
  • Sogenannte Gipfeltreffen sind immer von Erwartungshaltungen begleitet, manchmal - und das traf in besonderem Maße für den jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius zu - auch von aus Expertensicht unrealistischen Hoffnungen.
  • Nicht selten entstehen diese aus den Wünschen politischer Akteure und Interessensgruppen und werden durch öffentliche Diskussionen und deren Resonanz in den Medien verstärkt.