Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: Was uns Wagner gezeigt hat

0

Russland hält die Welt weiterhin in Atem – aktuell nicht nur mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und diffusen Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen, sondern auch mit einer Art von bewaffnetem Aufstand eines Söldnerführers gegen staatliche Autoritäten.

Die Vorgänge zeigen abseits der Auswirkungen auf das russische Machtgefüge und den Krieg in der Ukraine schonungslos vor allem eines: die geradezu atemberaubenden Schwächen des „Systems Putin“.

Wer ist Wagner?

Aber eines nach dem anderen: Die 2014 gegründete „Gruppe Wagner“ ist offiziell ein privates Militärunternehmen im Eigentum und geleitet von Jewgeni Prigoschin, einem Geschäftsmann mit kriminellen Wurzeln. Wie Wladimir Putin allerdings nunmehr zugegeben hat, wird dieses im Wesentlichen von Verteidigungsministerium Russlands finanziert. Die Gruppe Wagner wird von Russland dort eingesetzt, wo russische Interessen mit militärischer Macht durchgesetzt werden sollen, ein offizielles Eingreifen mit regulären Streitkräften jedoch vermieden werden soll.

Rekrutiert werden meist ehemalige Militärangehörige bzw. Personal aus Sicherheitsdiensten, die Gruppe ist militärisch organisiert, mit schweren Waffensystemen ausgerüstet und verfügt über eigene Luftkampfmittel. Der gerade im Vergleich zu den hauptsächlich aus Rekruten bestehenden regulären russischen Streitkräften hohe Kampfwert ergibt sich aus straffer professioneller Führung, der Motivation der Paramilitärs, die den Dienst in der Gruppe auch als gut bezahlten Job betrachten und der Kampferfahrung.

Wagner war und ist zum Teil immer noch in Syrien und mehreren afrikanischen Staaten aktiv. Darüber hinaus betreibt Wagner Subunternehmen, die sich mit Hacking, Propaganda und Desinformation beschäftigen. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine übernahm die Gruppe vor allem in den Kämpfen um die ostukrainische Stadt Bakhmut reguläre militärische Aufgaben, wofür sie auch Strafgefangene rekrutierte. Sowohl in Syrien als auch in der Ukraine sind Kriegsverbrechen von Angehörigen der Wagner-Gruppe dokumentiert. Sie wird von den USA als transnationale kriminelle Organisation eingestuft und ist – wie auch von der EU - mit Sanktionen belegt.

Konfliktpotential durch Söldner

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Einsatz von Söldnern im Rahmen einer Operation der regulären Streitkräfte Konfliktpotenzial birgt, vor allem wenn sich die Führung ersterer einer koordinierenden Steuerung durch die übergeordnete Ebene laufend zu entziehen versucht. Im Mai schien sich dann die Streitkräftespitze unter Verteidigungsminister Sergei Schoigu durchgesetzt zu haben, als bekannt wurde, dass sich bis Ende Juni alle privaten militärischen Gruppierungen dem Verteidigungsministerium zu unterstellen hätten.

Während die tschetschenischen Kämpfer von Ramsan Kadyrow umgehend den entsprechenden Vertrag unterzeichneten, weigerte sich Prigoschin bis zuletzt beharrlich, das zu tun. Er verstärkte vielmehr seine provokante Rhetorik gegen Schoigu und Generalstabschef Gerassimov und warf ihnen wiederholt Unfähigkeit vor. War allein bereits durch die Weigerung der Unterstellung der Gruppe Wagner unter das Verteidigungsminsterium spätestens mit Ende Juni eine eigentlich unhaltbare Situation zu erwarten, die eine klare Lösung erfordert hätte, brachte höchstwahrscheinlich eine am vergangenen Freitag veröffentlichte Videoaufnahme, in der Prigoschin das gesamte russische Narrativ, das dem Angriff auf die Ukraine zugrunde gelegt worden war, einstürzen ließ, aus Sicht der Autoritäten das Fass zum Überlaufen.

Mutmaßlich um seiner Verhaftung zuvorzukommen, ordnete Prigoschin dann den bekannten "Marsch der Gerechtigkeit" auf Moskau an, der am Samstag überraschend schnell Raum gewinnen konnte und nach Ereignissen, die immer noch im Dunkeln liegen, erst etwa 200 km südlich von Moskau durch ihn selbst gestoppt wurde. Prigoschin hielt sich dabei im von der Wagner-Gruppe übernommenen Hauptquartier der die russischen Operationen leitenden Heeresgruppe in Rostow am Don auf und unterhielt sich zwanglos mit dem ebenfalls dort anwesenden stellvertretenden Verteidigungsminister und dem Kommandierenden General.

Was könnten die Folgen sein?

Wie ist dieses dramatische Ereignis einzuordnen, was könnten seine Folgen sein? Nun, für eine endgültige und seriöse Bewertung ist die Informationslage noch zu dünn. Was gesichert festgestellt werden kann, ist aber, dass Wladimir Putin nachhaltig beschädigt ist. Sein Image als starker, unangreifbarer Staatenlenker und genialer Taktiker der Macht ist mehr als angekratzt. Und je mehr Putin in pompösen Inszenierungen Reden hält, in denen die Einheit und Geschlossenheit des russischen Staates, seiner Bevölkerung und seiner Streitkräfte beschworen werden, umso stärkere Zweifel daran sind angebracht. Was die Weltöffentlichkeit sieht, ist (noch?) kein Bürgerkrieg, aber nichts weniger als eine schwere Staatskrise der zahlenmäßig stärksten Nuklearmacht der Welt mitten in einem bewaffneten Konflikt, der sich von einem Angriffskrieg zu einer immer verzweifelter werdenden Verteidigung der eroberten Territorien entwickelt hat.

Die Gruppe Wagner ist zunächst als militärisch relevanter Faktor ausgefallen, inwieweit eine Wiederherstellung gelingt ist fraglich. Fraglich ist aber auch die geschlossene Loyalität der regulären Streitkräfte. Ob es nun der Unfähigkeit der Führung der Territorialverteidigung, der Schwäche der russischen Kräfte im Hinterland oder einem bewussten Stillhalten von mit Prigoschin heimlich verbündeten Kommandeuren lag, dass die Wagner-Kräfte so schnell und kaum behindert nach Moskau vorstoßen konnten, jede dieser Optionen ist für das Regime ungemütlich. Und der Bevölkerung wurde auch damit die Schwäche des Systems demonstriert, das nicht in der Lage ist, auf seinem eigenen Territorium für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Man kann davon ausgehen, dass das die Paranoia, welche ein autoritär-diktatorisches Regime ohnehin prägt, dadurch nicht geringer wird und dies wiederum Potenzial für weitere Verwerfungen, zumindest in Form von Säuberungen, birgt.

Die ohnehin durch erste erkennbare Erfolge der ukrainischen Offensive beanspruchte Kampfmoral der russischen Truppen wird durch diese Ereignisse zweifellos weiter geschwächt, Verunsicherung auch hinsichtlich der Rechtfertigung und der Ziele des Krieges, Zweifel an der militärischen Führung und Loyalitätskonflikte dürften zunehmen.

Für Russland gelten andere Regeln

Vor allem eines aber ist mit einem Schlag in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt worden: Die gängigen Vorstellungen über einen entwickelten Staat mit einer demokratisch konstituierten Rechtsordnung, kontrollierten Institutionen und ausbalancierten (Macht-) Verhältnissen von Legislative, Judikative und Exekutive gelten für Russland faktisch nicht. Wladimir Putin, der das Land de facto seit 23 Jahren regiert, hat alle Hände voll damit zu tun, permanent die Machtverhältnisse der wesentlichen Akteure zu balancieren, gleich einem Diktator eines unbedeutenden Entwicklungslandes (womit einem unvermittelt der seinerzeitige Vergleich des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ins Gedächtnis kommt, der die damalige Sowjetunion als „Obervolta mit Atomraketen“ bezeichnet hat). Dem Jongleur der Macht ist allerdings nunmehr eine Kugel entglitten. Passiert das einem richtigen Künstler, bedeutet das meist das Ende dieser Phase der Vorstellung. Für Russland bleiben die Konsequenzen noch abzuwarten.

ribbon Zusammenfassung
  • Russland hält die Welt weiterhin in Atem – aktuell nicht nur mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern auch mit einer Art von bewaffnetem Aufstand eines Söldnerführers gegen staatliche Autorität.
  • Die Vorgänge zeigen vor allem eines: die geradezu atemberaubenden Schwächen des "Systems Putin", meint Kolumnist Gerald Karner.