Bini Guttmann im Interview
Kritik am Vorgehen Israels "selbstverständlich kein Antisemitismus"
Eine vom UNO-Menschenrechtsrat (UNHRC) beauftragte Expertenkommission wirft Israel in einem Bericht "schwere Menschenrechtsverletzungen mit sexuellen Übergriffen als Mittel zur Unterdrückung und Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung" vor.
Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu bezeichnete den Menschenrechtsrat daraufhin als "antisemitisches, verrottetes, den Terror unterstützendes und irrelevantes Organ".
Netanyahu: "Weil wir Juden sind"
Auch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) nannte Netanyahu "einen der großen Antisemiten der Moderne", nachdem dieser einen internationalen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen ihn beantragt hatte.
Als es internationale Kritik wegen des Vorgehens Israels im Gazastreifen gibt, sagt Netanyahu: Die Kritik sei nicht auf das Handeln Israels zurückzuführen, "sondern weil wir existieren, (...) weil wir Juden sind".
Für viele wirkt es heutzutage so, als könnte man das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza gar nicht mehr kritisieren. Das stimmt aber nicht, meint Benjamin (Bini) Guttmann vom World Jewish Congress (WJC).
Im PULS 24-Interview erklärt er, warum Kritik an der israelischen Regierung legitim ist und wie man zwischen dieser Kritik und wahrem Antisemitismus unterscheiden kann.
Leid im Gaza-Streifen: Kritik an Israel wird lauter
"Selbstverständlich nicht antisemitisch"
Bini Guttmanns Meinung in Bezug auf den Gaza-Krieg ist ganz klar: Es brauche ein "Ende des Krieges, einen Waffenstillstand, eine Freilassung aller Geiseln und humanitäre Hilfe für Gaza". Es brauche "langfristig politische Lösungen und keine militärischen".
"Und was sowieso klar ist, niemand darf vertrieben werden", betont er gegenüber PULS 24.
"Selbstverständlich ist Kritik am Vorgehen Israels nicht antisemitisch", stellt Guttmann klar. Deshalb haben er und viele andere Stimmen aus der jüdischen Community in den letzten Tagen und Wochen solche Kritik auch geäußert.
Es gebe täglich in Israel und auch außerhalb ganz viele jüdische und zionistische Menschen, die das Vorgehen der israelischen Regierung scharf kritisieren.
"Politische oder militärische Entscheidungen der israelischen Regierung zu kritisieren ist natürlich nicht antisemitisch", so Guttmann.
Was ist antisemitisch?
Was hingegen ist antisemitisch? Guttmann bezieht sich auf die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), zu der sich über 30 Staaten, darunter auch Österreich, bekennen.
Mache man Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt für das Handeln Israels verantwortlich, ist das antisemitisch, so Guttmann.
Auch wer Israel das Existenzrecht abspricht, handle "ganz klar antisemitisch". "Genauso wie es in meinen Augen rassistisch und problematisch ist, das palästinensische Selbstbestimmungsrecht zu leugnen. Aber auch Juden und Jüdinnen haben das Recht auf Selbstbestimmung im historischen, religiösen und kulturellen Zentrum des Judentums", betont der Jurist und ehemalige Präsident der European Union of Jewish Students (EUJS).
Daher sei es auch antisemitisch, Jüd:innen als "Kolonialherren" oder "Imperialisten" zu bezeichnen.
Guttmann warnt auch vor einem Doppelstandard, der "gerade in Teilen der anti-israelischen Bubble in Wien sehr eindrücklich" sichtbar sei.
"Natürlich kann und aktuell soll man auch die israelische Regierung meiner Meinung nach kritisieren. Was allerdings schon auffällig ist, ist, wie stark diese Kritik nur bei diesem Thema ist", sagt er. So würden viele der zentral handelnden Personen aus der anti-israelischen Szene in Wien gleichzeitig "für Russland und gegen die Ukraine auftreten", so Guttmann.
"Wenn man einerseits davon ausgeht, dass Israel das Böse auf der Welt ist, aber andererseits mit einer russischen Fahne vor einem Faschismus-Denkmal posiert, dann kommt die Kritik an Israel vielleicht nicht aus einem tatsächlichen Ärger über das Vorgehen der israelischen Regierung, sondern aus antisemitischen Motiven, die, wie wir alle wissen, tief verwurzelt sind."
Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)
Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.
Schadet Israels Regierung dem Kampf gegen Antisemitismus?
Die Rhetorik der israelischen Regierung kritisierte unter anderem Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter von Baden-Württemberg, bereits vor einem Jahr. Netanyahu schade mit seinem Verhalten dem Kampf gegen Antisemitismus, so der Vorwurf.
Der israelbezogene Antisemitismus nehme merklich zu, der Vorwurf von Antisemitismus werde aber falsch genutzt, so Blume. "Rechtsextremisten aus Israel, den USA und Europa, aber auch die Regierung Netanjahu benutzen den Antisemitismus-Vorwurf inflationär und instrumentalisieren ihn - das hilft uns überhaupt nicht, wenn wir Antisemitismus ehrlich bekämpfen wollen", meinte Blume.
"Man kann nicht jeden, der die israelische Regierung kritisiert, als Antisemiten abstempeln."
Guttmann glaubt hingegen, dass der Kampf gegen Antisemitismus "derzeit leider von allen Seiten in sehr schädlicher Art und Weise missbraucht wird".
"Natürlich ist es Taktik der rechtsextremen israelischen Regierung, sowie teilweise auch von anderen Rechten und Konservativen, die Antisemitismus dafür instrumentalisieren, um politisch voranzukommen, um ihren Rassismus zu kaschieren", meint er.
Er warnt aber auch vor einem seiner Meinung nach aktuell noch größerem Problem - zumindest in Europa. So gebe es auch einen starken Versuch von Teilen der Linken, Antisemitismus neu zu definieren. "Und dabei gleichzeitig Dinge, die für den ganz großen Großteil aller Juden und Jüdinnen ganz klar antisemitisch sind, und die auch in einer wissenschaftlichen Art und Weise als solche definiert worden sind, als nicht-antisemitisch erklärt werden."
Man kann nicht jeden, der die israelische Regierung kritisiert, als Antisemiten abstempeln.
"Das Heimatland beider Völker"
Mittlerweile herrscht seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem etwa 1.200 Menschen getötet und weitere 250 als Geiseln entführt wurden, Krieg.
Bis jetzt wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 53.300 Palästinenser im Gazastreifen getötet, die humanitäre Lage ist katastrophal. Auch der Antisemitismus ist weltweit dramatisch angestiegen. Ein Ende des Konflikts ist unterdessen nicht in Sicht.
Für Guttmann bleibt die einzige Lösung für ein Ende des Krieges die Zwei-Staaten-Lösung.
Es ist das Heimatland beider Völker. Deswegen haben beide ein Recht auf Selbstbestimmung dort, idealerweise in eigenen Staaten.
"Juden und Jüdinnen und Palästinenser:innen haben beide historische und kulturelle Bezüge zum Land zwischen Jordan und Mittelmeer. Es ist das Heimatland beider Völker. Deswegen haben beide ein Recht auf Selbstbestimmung dort, idealerweise in eigenen Staaten." Das sei langfristig die einzig mögliche Lösung.
"Damit das möglich ist, muss die Hamas natürlich zerstört werden. Aber auch die aktuelle rechtsextreme israelische Regierung muss fallen."
Zusammenfassung
- Angesichts des Vorgehens des israelischen Militärs im Gazastreifen, den vielen Toten und der Verschärfung der humanitären Lage für die Zivilbevölkerung in Gaza, steigt die Kritik an der israelischen Regierung.
- Israels Antwort auf die Kritik ist häufig der Vorwurf des Antisemitismus.
- Warum Kritik legitim ist und wobei es sich tatsächlich um Antisemitismus handelt, erklärt Bini Guttmann im PULS 24-Interview.