Neuerscheinung: Mit der Atombombe gegen "deutsche Dogmen"
Unter Verweis auf den russischen Aggressionskrieg betont der deutsche Publizist die Notwendigkeit, dass auch Deutschland potenzielle Angreifer abschreckt. "Das geht nicht ohne - eigene - Atomwaffen. Es waren deutsche Wissenschaftler, die die Atomkraft mitentwickelt haben. Es waren deutsche Wissenschaftler, die an der Bombe bauten. Einige emigrierten, um nicht dem Bösen zu dienen. Und um die Bombe notfalls über Deutschland abzuwerfen. Jetzt brauchen wir die Bombe, um das Böse abzuwehren."
International würden jene Länder respektiert, die über Atomwaffen verfügen, erläutert Müller im APA-Gespräch. Die Abschreckung rein mit konventionellen Mitteln gestalte sich hingegen schwierig, so der Autor, der diesbezüglich auch einen Konnex zur Wehrpflichtdebatte sieht. Diese würde etwa in Frankreich und Großbritannien unter anderem auch deshalb nicht so intensiv geführt wie in Deutschland, weil diese Länder über eigene nukleare Kapazitäten verfügten.
Man merkt, Müller will etwas bewegen. Ob es das Eintreten gegen Wehrdienstverweigerung oder für das Leistungsprinzip und gegen "Vollkaskomentalität" ist - das Buch des Juristen wird getragen von dem Wunsch nach einem Gemeinwesen, in dem weniger gejammert und mehr getan wird. Ziel sollte es sein, "mit guter Politik die Ränder kleinzuhalten", sagt er im APA-Gespräch. Entsprechend kritisch sieht er auch die Diskussion über ein Verbot der Alternative für Deutschland (AfD), die aktuell eher "wie eine normale Option im Meinungskampf" erscheine. Im Moment sehe er kein Verbot der AfD, doch sollte man "auch nicht so tun als ob es einen Persilschein gibt für jegliches Verhalten". Auch Vereine würden in Deutschland immer wieder wegen Verfassungsfeindlichkeit verboten, "und es regt sich keiner auf".
"Das Deutsche daran ist, dass man immer sehr radikal ist", bringt der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die von ihm geschilderten Probleme auf einen Nenner. So sei etwa das Asylrecht ein "ehrenhafter Grundwert", der aber durch seine exzessive Auslegung "in der Praxis pervertiert wird". An einer Stelle klingt er selbst dogmatisch, wenn er zivilem Ungehorsam jeglichen Platz in einem demokratischen Rechtsstaat abzusprechen scheint. "Zivilen Ungehorsam als legitimes, gar legales Mittel gibt es im Rechtsstaat also nicht, Widerstand schon gar nicht", schreibt er im Abschlusskapitel. "Ungehorsam gegenüber demokratischen Gesetzen führt geradezu zur Abschaffung der Demokratie."
Keine Lösung, "dass Kanzler am Parlament vorbeiregiert"
Viele Kritiker des deutschen Reformstaus werden Müllers Buch als erfrischenden Denkanstoß sehen. Die aktuelle Politik verliere sich "im Klein-Klein, obwohl die Lage so ist, dass man sich parteiübergreifend zusammensetzen und Lösungen suchen sollte", moniert er im APA-Gespräch. Beim virulenten Thema Migration solle man "Probleme ansprechen ohne irgendwelche Ressentiments zu bedienen". Dass man auf diese Weise gegen Rechtspopulisten gewinnen könne, habe sich jüngst etwa bei den Wahlen in Bundesstaaten der USA gezeigt.
Während Müller in seinem Buch auch spezifische Themen wie die deutsche Notengläubigkeit, das Gendern, die Me-too-Debatte oder den Opferschutz erörtert, bleibt er in den großen Fragen des politischen Gemeinwesens betont unbestimmt. "Ich glaube, das System hat sich bewährt, auch das föderale und das repräsentative", wendet er sich gegen eine radikale Änderung der deutschen Verfassung. "Ich weiß nicht, ob das der Problemlöser ist", sagt er mit Blick auf Vorschläge für mehr direkte Volksentscheidungen. "Auch nicht, dass der Bundeskanzler am Parlament vorbeiregiert", kommentiert er auf eine entsprechende Frage den jüngsten Vorschlag des Berliner Rechtsanwalts und Autors Ferdinand von Schirach, die Amtszeit des deutschen Regierungschefs von vier auf sieben Jahre auszudehnen und ihn mit der Möglichkeit auszustatten, drei Gesetze ohne Zustimmung des Bundestages durchzusetzen.
"Es gibt nicht den institutionellen Befreiungsschlag, der uns aus der Krise führt. Wir sollten die Verfassung so leben, wie sie gemeint ist", betont der FAZ-Redakteur und Podcaster ("F.A.Z. Einspruch"). Obwohl er als Journalist ein "Berufszyniker" sei, sieht er sein Buch als Beitrag gegen die verbreitete Schwarzmalerei in seiner Heimat. Tatsächlich zerpflückt er den deutschen Negativismus im Kapitel "Am liebsten würde ich auswandern", indem er all jene Schwierigkeiten schildert, denen sich Deutsche nach dem Verlassen ihres vermeintlich so kaputten Heimatlandes zu stellen haben - dem eigenen Ausländerdasein, einem schlechten Gesundheitssystem oder auch überfallsartigen Steuererhöhungen.
"Man sollte heute noch einen Apfelbaum pflanzen"
"Wir brauchen mehr Optimismus und einen freien Blick gerade jetzt", betont Müller. Die Einstellung, "dass es schon klappen wird", sollte man bereits in den Schulen unterrichten, schließt der vierfache Vater unter Verweis auf ein Zitat des protestantischen Glaubensgründers Martin Luther ("Wenn ich wüsste, dass die Welt morgen untergeht, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen."). "Man sollte heute noch einen Apfelbaum pflanzen, das wäre eine gute Einstellung."
Reinhard Müller: Deutsche Dogmen. Von Asyl bis ziviler Ungehorsam, Frankfurter Allgemeine Buch, 184 Seiten, 22,70 Euro, ISBN 978-3962512316
(Von Stefan Vospernik/APA)
Zusammenfassung
- Der FAZ-Redakteur Reinhard Müller fordert in seinem neuen Buch "Deutsche Dogmen" offen eine deutsche Atombombe, um angesichts des russischen Angriffskriegs potenzielle Angreifer besser abzuschrecken.
- Er kritisiert den deutschen Perfektionismus, der laut ihm pragmatische Lösungen in Bereichen wie Bürokratie, Atomkraft und Asylrecht verhindert.
- Müller sieht einen Zusammenhang zwischen fehlender Wehrpflichtdebatte in atomar bewaffneten Ländern wie Frankreich und Großbritannien und der aktuellen Diskussion in Deutschland.
- Das Buch plädiert für mehr Pragmatismus, Leistungsprinzip und Optimismus in der Gesellschaft und wendet sich gegen institutionelle Reformvorschläge wie eine längere Kanzleramtszeit oder mehr direkte Volksentscheide.
- Mit 184 Seiten und einem Preis von 22,70 Euro behandelt "Deutsche Dogmen" insgesamt 20 gesellschaftliche Irrtümer und fordert dazu auf, weniger zu klagen und mehr zu handeln.
